Gregory Porter – All Rise

Ein musikalischer Durchbruch mit 39 Jahren ist selten. Viel zu oft möchte die Musikindustrie möglichst junge Talente fördern, um diese auch so lang es nur geht als Einnahmequelle zu nutzen. Wagen sich große Labels an Leute, die fast die 40 knacken, muss irgendwas an ihnen besonders sein. Gregory Porter macht zwar schon weitaus länger Musik, als man ihn kennt – der richtige Kick geschah aber erst 2010 mit seinem Debütalbum „Water“.

Gott sei Dank, kann man nur sagen. Gott sei Dank haben genügend Leute erkannt, dass der knapp 1,90m große Mann aus Sacramento sich erheblich abzuheben weiß – und Gott sei Dank hat das auch ein breites Publikum zu schätzen gewusst. Seit „Water“ hat Porter eine Hand voll Alben veröffentlicht und mit seinen zwei letzten Longplayern „Liquid Spirit“ (2013) und „Take Me To The Alley“ (2016) jeweils einen Grammy für das beste Jazz-Gesangsalbum eingesackt. Auch in Deutschland hat der Herr mit der großen Mütze seine Anhängerschaft. „Liquid Spirit“ blieb bei uns über ein Jahr in den Albumcharts und erlangte 3-fach-Gold. Selbst sein 2017 erschienenes Coveralbum „Nat ‚King‘ Cole & Me“ (2017) kam in die Top 20.

Für sein neuestes Werk All Rise wurde sich erstmalig fast drei Jahre Zeit gelassen. Die Erwartungen dürfen nach einem so erfolgreichen und gleichzeitig so stimmigen Werk wie „Liquid Spirit“ weiterhin hochbleiben. „Take Me To The Alley“ konnte zwar die Qualität nicht ganz halten, klang es trotz ein paar toller Songs doch an vielen Stellen zu wiederholt und etwas zu entspannt. Letztendlich handelt es sich aber bei Gregory Porter neben Norah Jones, Katie Melua oder Melody Gardot um einen der ganz wenigen Jazz-Künstler, die überhaupt den Mainstream erreichen. Wie das wohl 2020 klingt?

Fans können bedenkenlos ihre hohen Erwartungen gern noch einen Tick höherschrauben. Denn mit All Rise ist eigentlich etwas fast Unmögliches passiert – Gregory Porter serviert nicht nur ein noch besseres Album als „Liquid Spirit“, sondern tatsächlich ein nahezu perfektes Album. In fast 74 Minuten, verpackt in 15 Songs, präsentiert der fast 49-jährige Sympathieträger ausschließlich Songs, die sich zwischen „gut“ und „hervorragend“ einordnen lassen.

Grund dafür sind insbesondere zwei Dinge: die atemberaubende Produktion von Troy Miller (mischte u.a. für Emeli Sandé und Jamie Cullum) und die weiterhin makellose Gesangsleistung. All Rise will laut gehört werden und noch mehr auf einer guten Anlage, flasht dafür dann aber so richtig. Man wird ansonsten viel zu vielen Details nicht gerecht, die Aufmerksamkeit verdient hätten. Eigentlich wäre eine Instrumental-Version des Albums als Bonus wünschenswert, da es im Vergleich zu den vorigen Werken Porters nochmals um einiges mehr Abwechslung bietet. Alle Highlights aufzuzählen würde viel zu lange dauern. Egal, ob Hammondorgeln und Klavier, Streicher, Bläserquartett, Flötenparts, Percussion oder Gospelchor – in der Abmischung ist alles genau so, wie es sein sollte. Jedes Solo ist ein Genuss für den Gehörgang. Es wird gegroovt, es wird Intimität erzeugt und dabei dennoch Authentizität bewahrt, sodass es immer noch möglich ist, den Sound live zu rekonstruieren.

Gesanglich kommt Porter einige Male aus seiner Komfortzone und liefert in Höhen als auch in Längen von Tönen beeindruckende Performances mit Schauergarantie. Eine stimmige Abwechslung zwischen souligen Phrasierungen, punktgenauen Momenten ohne Schnickschnack und jazzig-anspruchsvollem Scat. Fans kommen hier nicht nur auf ihre Kosten, sondern müssten auch in ihrer Wohnung vor Begeisterung in Jubelstürme ausbrechen.

Klassischer Jazz, emotionaler Soul, old schooliger Motown, Blues- und Funkeinlagen, lautstarker Gospel, ein Hauch R’n’B und sogar der eine oder andere poppige Refrain mit Ohrwurmhook – All Rise ist gefühlt alles und die stimmige Komposition, die man braucht. Selbst bei der Auswahl der besten Tracks wird es schwierig, da auch hier letztendlich der Geschmack entscheiden wird. Direkt der Einstieg mit „Concorde“ kommt mit einem untypisch lauten Knall, macht aber sofort Lust auf mehr. Mitreißende Powerhymnen wie „Revival“ wechseln sich ab mit verträumten Liebesbekundungen in „If Love Is Overrated“, das sich zu den größten Balladen 2020 zählen darf. „Modern Day Apprentice“ klingt wie aus einem Disney-Abspann der 1960er und trifft direkt ins Herz. „Phoenix“ macht jeden Cocktail in der passenden Bar schmackhafter, „Merchants of Paradise“ wird äußerst politisch, „Long List Of Troubles“ der Höhepunkt für die Brass-Liebhaber und „Merry Go Round“ ist langsamer Walzer mit Jazzbesen-Atmosphäre.

Songs zwischen knapp unter drei und über sechseinhalb Minuten. Gregory Porter und seine Band lassen ihren Titeln die Zeit, die sie brauchen. Nicht mehr und nicht weniger. All Rise hält perfekt die Wage zwischen anspruchsvoller und gleichzeitig gut konsumierbarer, Genre-übergreifender Musik. Auf Instrumental-, Gesangs- und sogar Melodieebene zieht die LP alle Register und darf sich gerne die Krone als musikalischstes Album des Jahres abholen.

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