War „Ultra Mono“ eine offenherzige Umarmung, so begrüßt „Crawler“ Zuhörer*innen mit vorausgestellter Schulter. Denn: Das vierte Album der Idles ist in vielerlei Hinsicht eine Antithese zu seinem Vorgänger. An die Stelle von teils im Vocal-Booth improvisierten, mit Wortmalereien gespickten Texten treten dort poetische Ein-Zeiler und eng gestrickte Narrative. Und: Straighte Dance-Beats weichen kantigen Rhythmen und kunstigem Post-Punk.
Der Wind ist kühler, den „Crawler“ aus den Boxen in die Gehörgänge bläst. Wo der Idles-Drittling noch empowernde Demoschild-Sprüchchen aneinanderreihte und damit vielerorts Gemeinschaft transportierte sowie postulierte, so wendet die Band und vor allem Sänger und Texter Joe Talbot den Blick nun nach innen und beleuchtet zurückliegende Suchterfahrungen. Die Motivik in den Texten richtet sich danach aus. Zwei Bilder dominieren: Der Autounfall und der „Crawler“, eine zu Fall gebrachte Person, die sich in Kriechhaltung verweilend stückweise zurück auf die Beine stellt. Einen solchen Prozess bildet „Crawler“ – auch wenn es streng genommen kein reines Konzeptalbum ist – ab. In den spannungsträchtigen Strophen von „The Wheel“ etwa spricht-keift sich Talbot durch den Teufelskreis, dem sich etwaiges Suchtverhalten zum Leide vieler oftmals ausgesetzt sieht: Cleane Phase, Rückfälle, Erfolge, erneute Rückfälle. So dreht sich das Rad erneut auf Anfang.
Welche Folgen Süchte für Betroffene und deren Umfeld haben können bespricht indes „Meds“. „Drugs lost what I had found, burnt friendships to the ground“, heißt es dort über noisige Saxophon-Einspieler. Ein ebenfalls wichtiges Dokument dieses noch laufenden Heilungsprozesses ist zudem „Progress“. Möchte Talbot eingangs noch das Gefühl verspüren High zu werden, so wandelt sich der soulige Choral im Songverlauf stückweise hin zu der Erkenntnis, dass er genau dies nicht möchte. Der Song behandelt damit den ewigen Zwiespalt ehemals Drogenabhängiger zwischen Rückfall und Nicht-Rückfall, den auch „The Wheel“ angesprochen hatte. Talbots Band imitiert in der Zwischenzeit mit ihren Instrumenten elektronische Störgeräusche: Ein würdig vertonter Heilungsprozess.
„Progress“ ist nicht das einzige „Crawler“-Stück, das fernab typischer Songstrukturen wandelt. Gleich die fünfeinhalb-minütige, an erster Stelle gesetzte Ambient-Ballade „MTT 420 RR“ erinnert mehr an Radiohead denn an den Idles-typischen Hymnen-Punk. Und auch Talbot mimt eher den Kollegen Berninger als ekstatische Live-Choräle hinauf zu beschwören. Ähnlich viel Soul transportiert auch „The Beachland Ballroom“, der als Ankündigungsstück eine Art kurzes, erhabene Hände-Reichen in der Albummitte darstellt. Auch wenn die fünf Briten sich in eigentlich bekanntes Terrain zurückbewegen, möchte „Crawler“ nicht so greifbar und zugänglich sein wie seine älteren Geschwister. „Car Crash“ etwa türmt bislang ungeahnte Lärmberge auf. Und da wäre das eigentlich im Kontext ungewöhnliche, für das Albumnarrativ jedoch essentielle „Wizz“, das dichte Textnachrichten eines ehemaligen Dealers aneinanderreiht und in nichtmal 30 Sekunden alles hinwegfegt.
Für die Band ist „Crawler“ also ein unabdingbares Album. Es ist verkopfter, weniger impulsgeleitet, an vielen Stellen kaum greifbar und düster. Und trotz allem: Der Ausblick ist ein positiver. „In spite of it all life is beautiful“, besingt Talbot im „The End“ den Optimismus. Kraft und Gesundheit!
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