Welches Album ist denn nun eigentlich schwieriger zu machen? Das zweite oder doch das dritte? Eindeutig ist es jedenfalls nicht das erste, da man dort quasi ohne Erwartungen von Kritiker*innen und Fans tun und lassen kann, was man will – und entweder es findet seine Befürworter*innen oder halt nicht. London Grammar haben 2013 mit ihrem Debüt „If You Wait“ sehr, sehr viele Befürworter*innen getroffen. Acht Jahre später gehen sie in die dritte Runde mit dem Namen Californian Soil.
Sie betreten also dieses Mal amerikanischen, besser gesagt kalifornischen Boden. Dabei klingen Hannah Reid, Dot Major und Dan Rothman uneingeschränkt britisch. Die in Nottingham gegründete Band, die sich im Studium kennenlernte, hat mit ihrem damaligen Erscheinen ein Stück weit den Sound des Jahrzehnts beeinflusst. „If You Wait“ war nicht weniger als ein absolutes Ausnahmewerk, das Versatzstücke aus dem Dream-, Indie- und Alternative-Pop vermischte, mit Trip Hop- und Electronica-Elementen verfeinerte und durch eine fesselnd-hypnotisierende Stimme perfektionierte. Zusätzlich hatten die drei Mitt- und Frühzwanziger*innen das richtige Händchen für Songwriting und Lyrics und heraus kam ein mit voller Lob überschüttetes Erstlingswerk, das jeden einzelnen Preis und jedes einzelne Kompliment mehr als verdiente.
Dabei spielten London Grammar keinesfalls leicht bekömmlichen Radiosound. Stattdessen ist ihre Musik von Schwermut getränkt, besitzt stets einen Hang zum Melancholischen, fast schon Depressiven und ist viel mehr Rotwein als partytauglicher Caipi. Genau diese Post-Teenager-Attitüde mit Angst vor der unbekannten Zukunft machte das Besondere aber aus, sodass 2017 auf dem Nachfolger „Truth Is A Beautiful Thing“ das Erfolgsrezept zu gut 90% wiederholt und nur in Messerspitzenportionsgröße experimentiert wurde. Das war ebenfalls solide und gelungen, nur eben nicht mehr ganz so sensationell, weil die Sensation ja schon war.
Zurück zur Eingangsfrage: was ist nun schwieriger? Das zweite Album, das sich im Bestfall stark am übererfolgreichen Debüt orientiert, Erwartungen fast nie erfüllen kann, aber immerhin Fans zufriedenstellt? Oder doch eher Album Nr. 3, bei dem spätestens klar wird, ob noch, und wenn ja, wie viele Ideen im Zauberhut versteckt sind? Denn London Grammar hätten sich wohl keinen Gefallen damit getan, erneut in ihrer Tristesse zu ertrinken. Schließlich ist die Welt seit über einem Jahr grau genug und die Lust, auf- und auszubrechen ungemein groß. Tatsächlich wagen Hannah und ihre Jungs auf Californian Soil weitaus mehr, als man ihnen wohl zugetraut hätte. Und das ist genau richtig so.
Wer aufgepasst und sich auch durch sämtliches Backmaterial gekämpft hat, konnte immer schon kleine Experimente entdecken. So sind „Help Me Lose My Mind“ mit Disclosure oder „Let You Know“ mit Flume exzellente clubtaugliche Hits, die in Stroboskoplicht um 4 Uhr morgens einen wahrhaftig einsaugen können. Aber auch Latin-angehauchte Tracks wie „Maybe“ oder „Darling Are You Gonna Leave Me“ wussten zu begeistern. Zwar lassen London Grammer die Bongotrommeln auf Californian Soul weitestgehend im Schrank, drehen dafür aber die Bässe mal auf volle Pulle.
Bevor Fans der ersten Stunde befürchten, dass sie ihre Lieblingsband nun zu Grabe tragen, sollte Entwarnung ausgesprochen werden. Californian Soil ist immer noch unverkennbar London Grammar. Hannah Reid klingt genauso geil wie eh und je – allerdings ist die traurige Stimmung etwas gewichen. Californian Soil ist treibender, mystischer, misstrauischer, zwischenzeitlich auch mal fast schon angriffslustig. Wichtig ist, sich Zeit zu nehmen und nicht zu schnell zu (ver)urteilen, denn dann macht man sich womöglich eine weitere spannende Platte des Trios kaputt.
Ist der erste Schock, dass Herzschmerzballaden wie „Strong“ oder „Rooting For You“ diesmal pausieren, überstanden, sollte spätestens nach dem dritten oder vierten Durchlauf das London Grammar-Gefühl einsetzen. Wer beispielsweise mit „Non Believer“ oder „Metal & Dust“ liebäugeln konnte, wird in den neuen elf Tracks zuzüglich Intro einiges schönes entdecken, da hier detailverliebte und aufwändige Spielereien – ob in den Gitarren, den Streichern oder dem Beat – ordentlich Raum bekommen und zum sich drin Verlieren einladen. Californian Soil setzt wesentlich mehr auf Klangwaben und Atmosphäre. Das fiel schon bei der ersten Vorabsingle „Baby It’s You“ auf, die sich durch ihre indigenen Klänge und Hall-Effekte schon im Gehörgang festgesetzt haben muss. Davon ausgehend ist die gesamte LP nicht mehr weit entfernt.
Mit „Lose Your Head“ schaffen London Grammar einen kleinen gemeinen Ohrwurm mit Claps, das wundervolle „Call Your Friends“ erinnert an Anfangszeiten und muss mit Kopfhörern ganz laut gehört werden. Highlights sind jedoch der völlig überraschende, coole Dancefloor-Killer „How Does It Feel“, bei dem die Energie nach dem Drop innerhalb weniger Sekunden auf die Hörer*innen überschwappt und das Gänsehaut-Erlebnis „I Need The Night“, das dermaßen vielschichtig produziert ist, dass es wohl noch 30 Durchläufe braucht, bis man alles gehört hat. Trotzdem tappt Californian Soil einige Minuten in das „Doch zu beliebig und irgendwie öde“-Fettnäpfchen, was gerade bei dem entschieden zu langsamen „All My Love“ oder dem unspektakulären „Missing“ auffällt. Glücklicherweise sind die aber entschieden in der Unterzahl.
Hannah, Dot und Daniel trauen sich und riskieren sogar, einige Fans zu verschrecken. Wer den Soundtrack für den nächsten Liebeskummer sucht, ist falsch. London Grammar legen ihre Teenage-Angst ab, zeigen sich gesettled, selbstsicher und ihrem Können bewusst. Californian Soil ist anders, aber nicht zu überrumpelnd, sodass es sich lohnt, dem Entfalten einige Tage Zeit zu geben, um dann die gewünschte Begleitmusik für eine Gegenwart voller Fragezeichen schätzen zu wissen.
Das Album kannst du hier (Vinyl) oder hier (Digital) kaufen.*
Ein Interview mit Hannah Reid zur Platte findest du hier.
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