2020 ist die Zeit des Home-Office! Diejenigen, die in diesem surrealen Jahr kein einziges Mal von zuhause aus gearbeitet haben, sind wohl in der eindeutigen Minderheit. Gleiches gilt für Verabredungen: wer hat nicht mindestens einmal eine Social-Distance-Party besucht und mit Freund*innen bei Zoom oder Skype geschnackt? Netta scheint das unfreiwillige Daheimbleiben effektiv genutzt zu haben und veröffentlicht nun ein paar Ergebnisse ihrer Produktivität.
Am 12.5.2018 stand in Europa „Feminismus“ auf der Agenda: Netta Barzilai holt mit ihrem kreativen wie abgedrehten „Toy“ die meisten Punkte beim Eurovision Song Contest in Lissabon. Zwar reichte es bei den Jurys nur für die Bronzemedaille – dafür riefen aber dermaßen viele Zuschauer*innen für die damals 25-jährige Israelin an, dass am Ende mit fast 100 Punkten Vorsprung zur Zweitplatzierten der Sieg in ihrer Tasche landete. Ihre Worte beim Entgegennehmen der Trophäe: „Thank you for choosing different, for celebrating diversity!“. Schadet bekanntlich nie.
Seitdem ist klar: Netta ist anders, auffällig, selbstbewusst, ein wenig verrückt und ein kleines Statussymbol. Und sehr musikalisch. Sie bezeichnet sich selbst als „fettes Mädchen“ und hat die ähnliche, in der Versenkung verschwundene Beth Ditto (Gossip) längst abgelöst. Ihre Songs gehen jedoch statt in die 80s-Rock-Richtung lieber gen Electro-Pop. Das gefällt nicht jeder/jedem, einigen aber umso mehr.
Leider hat es die ehemalige Studentin der elektronischen Musik in zweieinhalb Jahren noch nicht gebacken bekommen, ein komplettes Album zu veröffentlichen. Das lässt weiterhin auf sich warten. Fans müssen sich bis dato mit einer guten Hand voll eigener Kompositionen zufriedengeben. „Bassa Sababa“ und „Nana Banana“ übertrumpfen „Toy“ in Schrägheit um Längen, setzen sich aber nach einigen Durchläufen im Gehörgang fest. Mit der vor gut einem halben Jahr veröffentlichten Ballade „Cuckoo“ zeigt Netta aber auch emotionalere, private Seiten. Diese Ambivalenz ihrer Persönlichkeit zelebriert sie nun kurz vor Weihnachten auf ihrer zweiten EP: The Best Of Netta’s Office: Vol. 1.
Das Studium hat sich in vielerlei Hinsicht ausgezahlt. Einerseits ist Netta das All-In-One-Paket, mischt, singt und produziert selbst. So kann’s gehen, wenn man die Loopstation perfekt im Griff hat. Andererseits ist es ihr möglich direkt von zuhause – wie gesagt, Home-Office und so – Tracks zu zaubern, die sich eben auch allein herstellen lassen. Langeweile scheint ihr ein Fremdwort zu sein, sodass seit geraumer Zeit ihr YouTube-Channel regelmäßig mit witzigen Coverversionen befüllt wird, die aktuell schnurstracks auf die Millionen-Marke zusteuern. Leider haben es nicht alle auf die nun droppende EP geschafft, aber eine hoch abwechslungsreiche Essenz ist dabei.
Netta ist ein Kind der 90er und zelebriert dieses Jahrzehnt auf gleich drei der sechs enthaltenen Titeln. Regulär lösen „Coco Jamboo“ (Mr. President), „Blue (Da Ba Dee)“ (Eiffel 65) und „Barbie Girl“ (Aqua) mittlerweile wahrscheinlich beim Großteil Gruselgänsehaut aus, da jedes dieser Lieder 789618x zu oft gespielt wurde, aber Netta wäre nicht Netta, wenn es ein Copy and Paste des Originals wäre. Stattdessen entlockt sie jedem der Classics ein paar Facetten, die man bis dahin in den Songs noch nicht gehört hat. Gerade „Coco Jamboo“ hat plötzlich einen dermaßen coolen Beat, der Teile des ursprünglichen Tracks enthält und durch neue Ideen ein Upgrade erhält. Netta rappt, singt und groovt sich durch den Sommerhit ’96 und macht besonders deutsche Anhänger*innen stolz. Bei „Barbie Girl“ wird die trashige Atmosphäre gegen heruntergefahrenen, verträumten Trip-Hop getauscht und auch das klappt. „Blue (Da Ba Dee)“ ist eins der beiden Höhepunkte des Minialbums und vollgespickt mit Überraschungen, Wendungen und Modernität.
Die andere Hälfte ist ganz nach Nettas Diversitätslebensstils ein Überraschungsei. Für Musicalhörer*innen liefert sie mit „Supercalifragilisticexpialidocious“ den Mary Poppins-Liebling schlechthin, der allerdings als Opening den langweiligsten Beitrag der Platte darstellt. Kreative Idee, nur nicht so spritzig umgesetzt wie erwartet. Geiler ist es dann, wenn die ESC-Gewinnerin auf dicke Hose macht und einen wahren 2000er-Hip-Hop-Stomper durch den Fleischwolf dreht. „Low“ von Flo Rida ist plötzlich statt prollig ziemlich catchy und mitreißend. Als Rauswurf liefert das Persönchen mit Edge eine eigene Version des Bob Dylan-Songs „The Times Are A-Changin‘“, was textlich hervorragend in die gegenwärtige Zeit passt und gleichzeitig Netta so ernst zeigt wie noch nie. Das könnte am Silvesterabend in dem passenden Melancholiemoment die perfekte Untermalung darstellen. Neben „Blue (Da Ba Dee)“ ein eindeutiger Anspieltipp.
Sechs Songs sind nicht viel. Zum Glück steht aber ja in dem Titel der EP ein „Vol. 1“ am Ende. Das lässt hoffen. The Best Of Nettas’s Office: Vol. 1 beweist, dass Netta in ihrem Genre einiges draufhat, einen eigenen Stil vorweisen kann und lieber den etwas aneckenden Weg geht, als ständig auf Nummer sicher zu fahren. Etwas für Fans der Künstlerin bzw. des ESCs, Genrekundige der elektronischen Spielereien, aber auch neugierige Liebhaber*innen von Coversongs, die nun mit vielen der Tracks Material für den nächsten „Ich hab da was entdeckt“-Abend in petto haben.
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