Sam Smith – Love Goes

„If you wanna judge me then go and load the gun, I’ve done nothing wrong – I’m young“ („Young“). Jegliche andere Ansage im Opening seines dritten Longplayers hätte zu Sam Smith auch wirklich nicht besser gepasst. Denn nun ist Authentizität.

In einer Zeit, in der man sich zwangsläufig eh viel mehr mit sich selbst beschäftigt, kommt Love Goes gerade recht. Beobachtet man Sam Smith‘ Auftreten in seinen Social-Media-Profilen, kann man feststellen, dass der 28-jährige Londoner schon einige Zeit vor Corona angefangen hat, sich, sein Leben und sogar seine Karriere zu hinterfragen. Im September letzten Jahres legte der schüchterne Sympathieträger bereits sein zweites Coming-Out hin. Dass er homosexuell ist, ist seit Beginn seiner Karriere klar – dass er sich selbst aber weder als Mann noch als Frau und stattdessen als non-binär definiert, ist neu. Er möchte eigentlich fortan in der englischen „they“-Form angesprochen werden, was aber sowohl Fans als auch Presse bisher nicht so hinbekommen bzw. akzeptiert haben. Ungewohntes Terrain eben, selbst in der Community. Da es bisher im Deutschen immer noch keine intakte Übersetzung dafür gibt, bleiben wir vorerst bei einem respektvollen „er“, möchten aber Smith‘ moderne und zukunftsorientierte Entscheidung und den Umgang damit positiv hervorheben.

Jedenfalls probiert Sam nicht mehr jedem zu gefallen, sich nicht mehr in normative Schubladen stecken zu lassen, sondern sich selbst zu finden. Diesen Weg beschreitet er mal mit Stöckelschuhen und Perlenohrringen in Videos mit sexy Choreo, stets mit 3-Tage-Bart und mittlerweile sogar mit selbstbewussten Oben-Ohne-Fotos trotz guten 10kg Übergewicht. Um seinen Hatern die kalte Schulter zu zeigen und Mobbingstories endlich in der Vergangenheit zu lassen, fallen Hüllen und Masken – auch musikalisch.

Bei so viel queerem Pride gehört natürlich auch ein bisschen queerer Sound dazu. Smith lässt auf seinem dritten Album seinen besonders in UK überaus erfolgreichen R’n’B-Soul-Pop ein wenig hinter sich und probiert neben seiner Identitätsfindung im Privaten auch im Studio einiges aus. Herausgekommen ist ein äußerst abwechslungsreiches, spaßiges Werk zwischen leicht clubbigen Dance-Sounds, Retro-Disco und lupenreinem Pop.

Das ursprünglich als „To Die For“ betitelte Werk sollte eigentlich schon im Frühjahr droppen. Smith entschied sich – so wie quasi jede*r – aber für eine Verschiebung um ein halbes Jahr nach hinten. Aktuell sieht die Coronawelle zwar eher noch schlechter aus als damals, aber irgendwann ist dann auch mal gut mit Warten. Trotzdem änderte sich nicht nur das Datum, sondern eben auch der Name. Das wesentlich positiver formulierte Love Goes passt auch zum Inhalt besser. Um die Metamorphose, die Sam zwischen seinem mittelprächtigen Vorgänger „The Thrill Of It All“ und 2020 durchlebte, darzulegen, enthält das 57-minütige Album neben den elf neuen Tracks gleich sechs Bonusnummern. Alles Titel, die zwischen Sommer ‘18 und April ‘20 an den Start gingen, darunter Riesenhits wie „Promises“ (feat. Calvin Harris), LGBTQ-Hymnen mit Demi Lovato („I’m Ready“), die erste Nummer nach seinem Genderouting, „How Do You Sleep“ und seine persönliche Wunschkollaboration mit Fifth Harmony-Mitglied Normani namens „Dancing With A Stranger“, das auch nach fast zwei Jahren immer noch ein totales Brett ist. Lediglich das Donna Summer-Cover „I Feel Love“ fiel aus der Tracklist, hätte aber auf einer so persönlichen LP eh nichts zu suchen.

Love Goes ist ein klares Ich-Album. Eine volle Ladung Songs, die zeigen sollen, wer Sam Smith ist, was in ihm vorgeht, wie er mit Liebe und Verständnis zu kämpfen hat und wie wichtig es ist, an sich selbst zu glauben. Das gelingt direkt mit dem bereits zu Anfang zitierten „Young“ vorzüglich, da es sich nicht scheut, ein Album als A-Cappella-Nummer zu starten, die lediglich mit Smith‘ Goldstimme und diversen Soundeffects auskommt und so den Fokus auf die Lyrics setzt. Daraufhin liefert das Gesangstalent – ja, er gehört ohne Diskussion zu den besten Pop-Vokalisten der Gegenwart – eine gemischte Tüte voller moderner Beats. Mal sehr tanzbar („Dance (‘Til You Love Someone Else)“), mal mit spanischer Gitarre („My Oasis“ (feat. Burna Boy)), mal funkig („Diamonds“) und glücklicherweise auch oft emotional-balladesk („For The Lover That I Lost“). Außerdem setzt Love Goes mehr Wert auf leichte Melodien statt auf anspruchsvolle Songstrukturen und überholt damit die etwas dünne Hitdichte von dem bedeutungsschweren „The Thrill Of It All“ und zieht in dieser Hinsicht mit dem Erstlingswerk „In The Lonely Hour“ gleich.

Große Highlights sind der Seelenstrip in dem dramatischen Klavierstück „Forgive Myself“ und das mit Arpeggios überfrachtete und in einer überraschenden Fanfare-endende „Love Goes“ (feat. Labrinth), die beide beweisen, warum Sam Smith in den letzten Jahren den Status erreicht hat, den er nun inne trägt. Mit Recht darf der verletzliche Brite sich frei aussuchen, wie er klingen möchte und wer an seiner Seite steht. 17 Lieder, an denen Smith immer mitschrieb und die zwar nicht mehr ganz so klingen wie aus Anfangszeiten, aber auch nicht zu weit entfernt und auch nicht qualitativ schlechter. Eine Empfehlung für klassische Pop-Liebhaber und die richtige eingeschlagene Richtung für einen schillernden Künstler jener Art.

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