Post-Punk goes Electro! Zumindest wenn man nach dem Label geht, das sich dem grandios-frenetischen Debüt von Squid angenommen hat. Auch wenn Warp eigentlich das Zuhause von experimenteller Dance-Music und Techno ist, macht die Labelwahl durchaus Sinn und das nicht nur, weil der Sound der fünf Wahl-Londoner ebenso unberechenbar ist wie von Label-Kollegen Aphex Twin, sondern auch, weil keine verkrampfte Genrespezifizierung dem wilden Konglomerat aus Kraut, Jazz, Ambient, Math, Drone, Noise, Indie und was alles sonst noch in „Bright Green Field“ steckt jemals gerecht werden würde.
Kennengelernt haben sich Ollie Judge, Louis Borlase, Arthur Leadbetter, Laurie Nankivell und Anton Pearson während ihres Studiums in der Küstenstadt Brighton. Nach gemeinsamen Ambient, Jazz, Funk und Soul-Sessions folgten die erste EP „Lino“ und die Singles „Terrestrial Changeover Blues (2007-2012)“ sowie „The Dial“, durch die auch der Londoner Produzent Dan Carey auf die Fünf aufmerksam wurde. Carey, seines Zeichens schon so etwas wie eine Art Post-Punk-Papst, produzierte bereits Alben von Genre-Größen wie etwa den Fontaines D.C., Goat Girl, Black Midi und Warmduscher. Bei tropischen Temperaturen dank der kaputten Klimaanlage in Careys Kellerstudio wurde das Debüt dann im Sommer aufgenommen. Den Umständen geschuldet lief die Band zu Höchstleistungen auf und spielte wie im „Fieberwahn“ – eine Beschreibung, die für das Debüt nicht treffender sein könnte.
Flucht nach vorn
„Bright Green Field” ist trotz des Entstehungszeitraums kein typisches Kind der Pandemie, denn statt berechtigter und verständlicher Realitätsflucht anderer Künstler*innen derzeit treten Squid ganz plakativ die Flucht nach vorne in omnipräsente Realitäten an. Zwar nehmen sie nicht direkt Bezug auf die aktuelle Krise, aber viel mehr auf die Umstände des urbanen Zusammenlebens. So beackert Schlagzeuger und Sänger Judge im Opener „G.S.K.“ (Abkürzung für den Pharmakonzern GlaxoSmithKline) nicht nur die physische Struktur des Hauptgebäudes des Unternehmens, sondern auch metaphorisch den gefährlichen Gebrauch des Deckmantels der Humanität, den solche Konzerne für sich nutzen. Neben einer ganzen Reihe ethischer Verfehlungen versuchte G.S.K. nämlich zu Vertuschen, dass einer ihrer Wirkstoffe, der Depressionen lindern soll, sogar das Suizidrisiko junger Menschen erhöht. Ebenso thematisiert „Pamphlets“ das Leben in Isolation sowie rechte Propaganda, während „Global Groove“ realitätsmüde nach dem neuen Lieblingskrieg im Fernsehen fragt.
Hummeln im Hintern
Das Intro „Resolution Square” lässt mit Field-Recordings von Kirchenglocken, Bienen und dem Ergebnis von dem, was ein von der Decke pendelndes Mikrofon aus einem Raum voller Gitarrenverstärker aufschnappen konnte, an schräge Perfomance-Kunst denken, aber deutet viel mehr den experimentellen Rahmen des Albums an und vor allem das, was uns auf „Bright Green Field“ noch bevorsteht. Squid wechseln nämlich im Verlauf des Albums – und der einzelnen Songs – so unbekümmert zwischen Genres, Geschwindigkeiten sowie Stimmungen als sei es für sie das Normalste auf der Welt.
So startet „Narrator“ als groovy Funk-Punk-Track, der erstaunlich nah dran an den Talking Heads dran ist, bevor der Song in der puren Zerstörung ausartet und man nicht mehr anders kann als mit Judge und Gastsängerin Martha Skye Murphy in das Geschrei zu „I play my part“ mit einzustimmen. Zeit zum Verschnaufen gibt es kaum, denn beim Math-geprägtem „Boy Racers“ ist wieder dieser treibend-motorische 4/4-Takt, der wie ein Herz durch das Albums pumpt und es mit dieser nervenaufreibenden Spannung versorgt. Daneben ist nur noch Judges Sprechgesang, der meist zwischen fiebriger Anspannung und völliger Entgleisung pendelt, das einzige beständige Stilmittel der Briten.
Endlos groovig scheint zunächst auch „Paddling“, dessen Beat direkt an die Krautpioniere Neu! erinnert, doch in der stets in Bewegung befindlichen Welt von Squid ist nichts wie es scheint und auf einmal geht der Track über in Disco-Punk der Marke !!! (Chk Chk Chk) und endet in dissonantem Tosen. Die zweite Albumhälfte bringt vermehrt Verstärkung von Orchester- und Jazzmusiker*innen, die unter anderem von den Brixtoner Szene-Kollegen Black Country, New Road hervor. Das lässt in „2010“ dann sogar fast loungig anmuten, würden sie die fragile Stimmung nicht mit heftigen Noise-Wellen ähnlich Sonic Youth auseinanderreißen, nur um sie kurz darauf wieder zusammenzufügen. In „Global Groove“ warten Squid noch einmal mit mäandrierenden Post-Rock auf, bevor im hyperaktiven Closer „Pamphlets“ noch mal das ganze immersive Konzept abgespult wird, in dem sich die ständig verändernde politische und kulturelle Landschaft widerspiegelt, in der sie entstanden ist.
Die britischen Szene-Magazine werden es mit ihren überschwänglichen Cover-Stories prophezeien: „Da kommt was ganz Großes auf uns zu“. Aber diesmal haben sie verdammt nochmal recht. Denn Squid sind nicht nur der neue The-Fall-Klon im trendy Vintage-Zwirn, der aufgesetzt gelangweilt vom Cover schielt, sondern ein komplett autarkes Projekt aus Musikgenies, die völlig unprätentiös und organisch Einflüsse von verschiedensten Vordenkern und Idolen zwischen ihren innovativen Stilumbrüchen verschmelzen lassen, ohne dabei jemals das Original zu kopieren. Purer Wahnsinn! Ein Album des Jahres!
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Die Rechte für das Albumcover liegen bei Warp Records.
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