Schicht im Schacht! Nach fast drei Jahren Durchackern fiel am 23.02.2020 in München der vorerst letzte Vorhang. Die Kelly Family hat zweifelsohne in deutschen Landen das wohl erfolgreichste Comeback des vergangenen Jahrzehnts hingelegt und gezeigt, dass auch einige Zeit später, in verkleinerter Besetzung keinesfalls Schluss sein muss und auch keine Abstriche gemacht werden brauchen.
Es benötigte nur eine winzig-kleine Ankündigung von Angelo im Fernsehen – und der Hype ging von vorne los. Zwar nicht so hysterisch und angsteinflößend wie in den 90ern, aber rein publikumstechnisch ungefähr genauso umfangreich. Erst ein einziges Comeback-Konzert, dann auf einmal drei an einem Wochenende. Daraufhin mehrere Tourneen und rund 100 Gigs. Begleitet wurde diese unwirkliche Zeit durch nicht weniger als fünf (!) Plattenveröffentlichungen, die lediglich 17 neue Tracks beinhalteten, darunter noch eine Coverversion. Doch letztendlich waren auch neue Kompositionen gar nicht erwünscht. Stattdessen wollte man nostalgisch das Flair der damaligen Zeit wiederaufleben lassen.
Die Verkaufszahlen der Longplayer und Konzertkarten sprechen für sich – das Experiment ist geglückt. Nun geht den übriggeblieben sechs Kellys plus Neuzugang Paul jedoch ein wenig die Luft aus. So eine turbulente Zeit saugt ordentlich Energie und Kreativität. Beides wird nun in einer unbestimmt langen Pause aufgeladen, um eventuell nochmal zurückzukommen. Die Möglichkeit, dass sie nicht mehr zurückkommen, besteht allerdings genauso.
Nach dem ersten Album nach der Rückkehr, „We Got Love“, und seinen zwei Live-Ablegern stand man vor dem Problem, wie es nun weitergehen soll. Die erste Hysterie ist abgeflacht, sämtliche Songs bereits neuaufgelegt. Glücklicherweise stand mit dem 25-jährigen Jubiläum des 1994-Evergreens „Over The Hump“ (lest HIER nochmal unseren Plattenkrach) genau der passende Anlass im Raum, um sowohl in Album- als auch in Tourform diesen Geburtstag zu feiern. Mit „25 Years Later“ (lest HIER nochmal unsere Albumkritik) gibt es seit Oktober ein Konzeptwerk, das sowohl den damaligen Durchbruch feiern und reflektieren als auch gleichzeitig den Status Quo von Heute festhalten soll. Das hat passabel funktioniert. Für die Tour, die in Sachen „Produktion“ sämtliche Kelly-Shows in den Schatten stellen sollte, wurde sich ebenfalls ein prägnantes Programm überlegt: erstmalig das komplette Album „Over The Hump“ in der originalen Reihenfolge plus weiteres.
Das haben wir uns im Dezember in dem „Wohnzimmer“ der Band, der Dortmunder Westfalenhalle, angesehen und waren vergleichsweise wenig angetan (lest HIER nochmal unseren Konzertbericht). Irgendwie kam das Gefühl auf, dass hier einiges nicht stimmte. Der nun vorliegende Bild- und Tonmitschnitt 25 Years Later Live, der also die letzte Veröffentlichung dieser gerade endenden Kelly-Ära darstellt, gibt uns recht.
Optisch ist mit 25 Years Later Live das bis dato beste Livematerial zu haben. „We Got Love – Live“ zeigt zwar das spektakuläre Rückkehrwochenende, beweist jedoch gleichzeitig, dass die Gruppe lange nicht gemeinsam auf der Bühne stand. Vieles ist noch etwas unsicher, sehr emotional, demnach aber auch authentisch. Der Nachfolger, „We Got Love – Live at Loreley“ (lest HIER nochmal unsere Kritik), ist zwar etwas routinierter, dank eingeschränkter Open-Air-Möglichkeiten aber weniger pompös und in der Setlist überschaubar anders. Bei 25 Years Later Live lohnt sich wiederum die Anschaffung, da mehr als 50% der Songs ausgetauscht wurden.
Die Idee, in der ersten Konzerthälfte, das beliebte und allseits bekannte Album, welches mehr als 2,5 Millionen Menschen besitzen und bis heute die Top 10 der bestverkauften Longplayer Deutschlands nicht verlassen hat, komplett zu spielen, ist im ersten Moment äußerst reizvoll. Defacto fehlen aber weiterhin drei prägnante Stimmen, die auf der Platte zu hören waren, und nun natürlich umbesetzt werden müssen. „Key To My Heart“ von Paddy war ursprünglich eh Joeys Solo und stellt keine große Schwierigkeit dar. Ein Song, der rockig genug ist, um ihm zu stehen und an Eingängigkeit bis heute nichts eingebüßt hat. Schwieriger wird es mit „Ares Qui“, das ebenfalls in den Strophen durch Paddy getragen wird. Bei der Tour übernimmt John und nimmt dem spanischen Latin-Track einiges an Tempo. Emotionaler Schmacht-Gesang ist eben nicht immer die beste Idee. Besser harmoniert Johns Art mit Maites „Roses Of Red“, das er wirklich berührend vorträgt – warum aber neben dem eh schon leicht dramatischen Stück noch Rosenblätter fliegen müssen und ein mit Rosen bestücktes, bibelartiges Buch getragen wird, aus dem John den Text abliest (!), bleibt fraglich. Da ist die Soundaufnahme auf den CDs doch wesentlich angenehmer als der Auftritt auf dem Fernsehgerät. Die drei Barby-Titel sind die größte Herausforderung. Der leicht schräge Style der Sängerin bietet einiges an Edge, der schwer nachzuahmen ist. „Baby Smile“ funktioniert in der 2019-Tourversion als netter, aber doch zu glatter Tutti-Vortrag, bei dem jeder ein paar Zeilen bekommt, und auch Patricia hier tatsächlich ihre Zeilen abliest. Unglaublich. „She’s Crazy“ ist in verkürzter Version nur auf einer Sologeige zu hören und demnach nur ein Interlude. Umso überraschender ist die Neuinterpretation von „Break Free“, an die sich Kathy traut und trotz klassischem Gesang zwischenzeitlich mal richtig Zunder gibt. Oho! Warum nicht öfter? Definitiv ein Highlight der Show, weil völlig unerwartet.
Kathy war bei der Dortmunder-Show Ende Dezember stark erkältet und somit kaum am Mikrofon. Deswegen ging bei dem Konzert, das wir besucht haben, einiges schief, musste Angelo „Break Free“ singen und auch sämtliche anderen Parts umbesetzt werden. Bei den hier vorgelegten zwei Shows in Berlin, die drei Wochen vorher stattfanden, läuft aber alles nach Plan. Leider hat sich Kathy an den beiden Abenden dazu entschieden, nicht die gleichen Klamotten zu tragen, sodass oftmals auffällt, dass es sich um zwei zusammengeschnittene Konzerte handelt. Ansonsten muss man jedoch ziemlich genau hingucken, wurde sich nämlich gerade beim Schnitt ordentlich Mühe gegeben, es nicht zu holprig aussehen zu lassen. Auf technischer Seite ist besonders die wundervolle Kamera, die zwischen Fans, Künstler und großen Kameraschwenks im Raum hin- und herwechselt, hervorzuheben, die sowohl eine intime Wohnzimmer- als auch Konzertatmosphäre zaubert. Gleiches gilt für den Sound, der zwar an einigen Stellen fast schon zu glatt geschliffen klingt, insgesamt aber besonders bei „Cover The Road“ oder „I Can’t Help Myself“ das Optimum herausholt und die vorigen Liveaufnahmen qualitativ ablöst. Das liegt nicht zuletzt an der gesanglichen Hochleistung von Jimmy und Angelo, die beide voll abliefern.
Fürs Auge wird ziemlich aufgefahren. Feuereffekte werden vervielfacht („Fire“), tieftraurige Videos auf Leinwand gezeigt („Cover The Road“), funkelnde Handylichter in Slow Motion gefilmt („First Time“) und unzählbare Konfettibomben geschossen („Over The Hump“, „Nanana“). Das größte Manko: die Setlist. Natürlich ist es nett, das Album der Kindheit bzw. Jugend in voller Länge auf der Bühne zu erleben, dies funktioniert aber, wie bereits erwähnt, nur eingeschränkt. In der zweiten Hälfte ist zwar mehr Sicherheit, weil jeder seine eigenen Songs und nicht die der anderen covern braucht, dafür ist mit zu viel neuem Material von dem zuletzt erschienen Album einfach ordentlich Füllmaterial vorzufinden. Das scheint auch das Publikum ähnlich zu sehen und steht in den Momenten eher herum als mitzugehen. Der Unterschied zwischen mittelprächtigen Neukompositionen („Never Gonna Break Me Down“, „Baila Mi Corazon“, „Sweet Freedom“, „Star Of The County Down“) und Klassikern, warum viele überhaupt Fans sind („Fell In Love With An Alien“, „Nanana“, „Take My Hand“, „Good Neighbor“), ist riesig und nicht von der Hand zu weisen. Selbstverständlich mussten für die Songs des aktuellen Albums einige weitere beliebte Titel weichen und fehlen nun schmerzlich (z.B. „No Lies“, „Imagine“, „Please Don’t Go“). Dass mit „Let My People Go“ an die Zeit als Straßenmusiker zurückgedacht wird, ist niedlich, aber mit der Wahl des Songs auch eher fragwürdig besetzt. Da hätte es bessere gegeben (z.B. „When I Was In Town“). „Oh Holy Night“ und „White Christmas“ sind ebenfalls zu hören, handelt es sich immerhin um eine Tour kurz vor Weihnachten – dies nun bei über 20°C im Frühjahr zuhause, ist dennoch etwas merkwürdig. Aber ok. Es ist eben die komplette Show.
Wie bereits bei allen vorigen Releases kann auch dieses Mal eine Fan-Edition erworben werden. Zusammengesetzt aus zwei Audio-CDs, die zusätzlich „We Are The World“ als Bonussong bieten, und der Konzert-DVD, sowie zwei weitere Extras. Einerseits ein wirklich gelungenes, 54 minütiges Making-Of zur Tour auf einer weiteren DVD, das neben vielen Interviews und kurzen Impressionen von fast allen Stopps der Tour auch Musical Director, Ton- und Pyrotechniker und Make-Up-Artists vorstellt und damit sich von der Masse abhebt – andererseits ein 60-seitiges Fotobuch mit über 100 Fotos von den Auftritten. Abgerundet durch eine Blu-Ray, die die beiden DVDs vereint. Alles hübsch gemacht, jedoch sollte jeder für sich selbst überlegen, ob er das Fotobuch und die Blu-Ray für fast doppelt so viel Geld braucht, oder sich nur mit CDs und DVDs zufriedengibt. Da lohnten sich die vorangegangenen Fan-Editionen dank Merchandise-Artikeln doch mehr.
Fazit: Eine weitere Kelly Family-Ära geht nun mit 25 Years Later Live zu Ende. Es wurde sich optisch außerordentlich viel Mühe gegeben, sodass der Konzertmitschnitt für alle Fans einen würdigen Abschluss darstellen sollte. Des Weiteren bleibt positiv, dass sich ein Konzept überlegt wurde, um einen weiteren Kaufanlass zu bieten und nicht die vorangegangenen Touren zu wiederholen, auch wenn die praktische Umsetzung den gewünschten Effekt nicht vollends auflöst. Wer immer noch nicht genug hat, kann sich mit den Soloprojekten begnügen. Patricia hat bereits vorgelegt, Angelo folgt in Kürze mit seiner eigenen Familie, Jimmy und Joey haben Livetermine angekündigt und auch John wird mit seiner Frau und deren gemeinsamen Band für Nachschub sorgen. Es bleibt zu hoffen, dass keine gefühlte Ewigkeit vergeht, bis die Familie wieder gemeinsam auftritt – vielleicht finden dann auch Maite, Paddy oder Barby ihren Weg zurück. Da wäre mit Sicherheit der nächste Hype ausgelöst und erneut die Nachfrage da, um drei erfolgreiche Jahre zu verleben.
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