Es ist Herbst. Es ist Oktober. Draußen wird es schneller dunkel, nass und ungemütlich, also ab ins Warme – doch ob es da so viel einladender ist? Denn schließlich ist Gruselsaison, die sogar vor den Theatern nicht Halt macht. Das immer kreative Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen holt einen wahren Klassiker aus dem Schrank und liefert mit Der kleine Horrorladen einen Musicalhit, den man leider viel zu oft in mittelmäßigen Produktionen erleben muss, der hier aber eine große Bühne erhält.
Wer in Deutschland lebt, weiß, dass “Starlight Express”, “Der König der Löwen” oder “Tanz der Vampire” quasi immer läuft. Was nur die Wenigsten wissen, ist, dass auch Der kleine Horrorladen, das 1982 in New York Premiere feierte, auch fast das ganze Jahr über irgendwo in der Republik zum großen Gefressen-Werden einlädt. Es ist eben nur meist ein Stück, das ähnlich wie “Cabaret” oder die “Rocky Horror Show” oft von kleineren Theatern oder Laienensembles gespielt wird. Die Beliebtheit des schrägen Horror-Comedy-Hits haben die Produzent*innen zwar alle auf dem Schirm, aber es ist eben zumindest musikalisch wie auch in der Erzählung ein wenig old schoolig.
Vor wenigen Monaten gab es bereits auf der Burg Wilhelmstein in Würselen Seymour und seine menschenfressende Megapflanze zu bestaunen, doch nun ist auch im Ruhrgebiet passend zu Halloween – natürlich gibt’s am 31.10. auch eine Vorstellung – wieder ein wenig ekeln, gruseln, erschrecken, aber auch mitfühlen und lachen angesagt. Das Musiktheater im Revier hat immer ein ganz gutes Händchen für Ideen, sodass nach “Hedwig and the Angry Inch“, “Tick, Tick… Boom!” und “Hello, Dolly!” die nächste Musicalinszenierung ansteht, die es nicht so oft in NRW zu sehen und hören gibt. Dass das im Vorfeld schon richtig gut ankommt, zeigt der Ticketverkauf, der bereits bei mehreren der insgesamt 16 Vorstellungen ausverkauft meldet.
Um trotzdem einem rund 40 Jahre alten Gassenhauer ansprechendes Leben einzuhauchen, ist die Balance zwischen Altbekanntem und Neuem wichtig. Diesen Mittelweg bekommt das MiR richtig gut hin. Die dritte Vorstellung, die am Mittwoch, dem 2.10., stattfindet, zeigt keinerlei freie Plätze und somit rund 330 neugierige Menschen. In dem zunächst 65-minütigen ersten und schließlich 40-minütigen zweiten Akt wird besonders die Bühne vollends genutzt. Der Blumenladen von Mr. Mushnik darf viel Fläche einnehmen und steht im Fokus des Geschehens. Neben und vor ihm gibt es ein paar kleinere Szenen, die das Treiben auf der Straße darstellen. Der Look ist recht homogen und zeigt eher erdige Farben mit einer metallischen Optik. Mehrfach wird mit Licht, ganz besonders mit Schattenspielen hinter Wänden gearbeitet, was dem Stück eine weitere leicht gruselige Ebene verleiht, aber trotzdem noch so viel Skurrilität bereithält, dass auch Kinder ab 12 Jahren hier ohne Angst zurecht kommen sollten.
In der Ausstattung macht das MiR beim kultigen Horrorladen alles richtig. Der eigentliche Star des Stücks, nämlich die immer weiter wachsende Audrey II, ist in unzähligen Stadien zu erkennen, sodass ihre Entwicklung mitverfolgt werden kann. Besonders zum Ende wuseln dermaßen viele Ranken durchs Bild, dass das markante Grün richtig schön ins Auge sticht. Auch technisch funktioniert mit dem Bewegen des Mundes alles ganz wunderbar, wofür hinter dem Aufbau Julius Warmuth zuständig ist.
Doch auch die Darstellerriege ist gut ausgewählt. Die stärkste Leistung zeigt Nikko Forteza in der Hauptrolle des Seymour, der zuvor in dem Harry-Potter-Stück in Hamburg mitspielte. Seine Interpretation ist besonders für Fans des Films wohl genau richtig, da sie sehr nah an der von Rick Moranis angelegt ist. Er spielt herrlich trottelig, dennoch liebenswert und singt auch mit viel Trauer wie Hoffnung. Ganz viele starke Momente gehen auf seine Kappe. Ähnlich stark ist Bernd Julius Arends als Mr. Mushnik, der im Zusammenspiel mit Forteza super funktioniert. Tamara Köhn als Mushniks Mitarbeiterin Audrey ist gesanglich besonders in ihrem Solo “Irgendwo im Grünen” hervorragend und singt leicht wie druckvoll, allerdings ist ihre Interpretation für die Rolle doch ein wenig zu tough. Sie wirkt etwas zu selbstbewusst für eine Person, die von ihrem Partner Orin Scrivello, gespielt von Daniel Jeroma, Gewalt erfährt, sodass es an ein paar kleineren Stellen nicht ganz glaubwürdig wirkt.
Daniel Jeroma darf gleich sechs Rollen verkörpern, seine Hauptaufgabe ist aber natürlich die des sadistischen Zahnarztes Orin Scrivello. Ähnlich wie bei Köhn ist auch sein Spiel nicht ganz dem entsprechend, wofür sein Charakter eigentlich steht. Tatsächlich wirkt er in seinen ersten Szenen fast zu nett. Sein großes Solo “Zahnarzt” meistert er gesanglich aber super. Spätestens ab dem Moment, in dem es mit Seymour zum Kampf kommt, ist auch er komplett drin. Besonders stark ist übrigens eine überraschende Szene, in der Seymour auf seine bisherigen Opfer trifft, die als Untote auf ihn zukommen und wie eine Hommage an den Horrorclown Pennywise wirken. Ein toller Einfall, der mit seinen diversen Blutspritzern einen schönen Farbkontrast zum dominierenden Grün und Gelb darstellt. Außerdem erwähnenswert ist der wesentlich umfangreichere Einsatz der drei Sängerinnen Chiffon (Sonja Hebestadt), Crystal (Julia Heiser) und Ronette (Elena Otten), die stimmig miteinander agieren, stark performen und sogar mehrfach mit den Charakteren in Dialog treten. Sie werden so mehr zum Teil des Geschehens, sind fast durchgehend auf der Bühne präsent und ein gern gesehener roter Faden.
Die fünfköpfige Band unter der Leitung von Wolfgang Wilger ist zwar nicht erkennbar positioniert, dafür aber stets gut zu hören. Die Rock’n’Roll- und Soul-Songs werden alle stark gespielt und machen immer wieder Spaß. Gesungen wird übrigens bis auf das Opening auf Deutsch. Allerdings ist der Sound für eine dritte Vorstellung etwas mau. An vielen Stellen sind die Mikrofone im Vergleich zur Band zu leise, sodass einige Texte bei besonders lauten Momenten nicht mehr verständlich sind. Am meisten leidet darunter die Stimme von Audrey II, Dennis Legree. Der wirklich tolle Sänger aus Miami, der u.a. bei “Starlight Express” spielte, gibt sich hinsichtlich seines Gesangs wirklich arg Mühe, ist aber durch seinen starken American-English-Akzent sowieso schon eher schwer zu verstehen, hat aber in den Full-Band-Augenblicken dann exakt gar keine Chance mehr, sodass von “Füttere mich” und “Essenszeit” gefühlt 70 Prozent unverständlich bleibt. Echt schade.
Trotzdem ist Der kleine Horrorladen in Gelsenkirchen in der Spielzeit 2024/25 eine äußerst kurzweilige, groteske, wirklich witzige, aber auch musikalische und rührende Unterhaltung. Am Ende wird es mit dem klassischen Musicalausgang, der kein Happy End beinhaltet, ein wenig spooky, denn wie sich unliebsame Dinge verbreiten können, die womöglich den Weltuntergang bedeuten, kann man im Alltag momentan leider viel zu oft beobachten. Gleichzeitig sind die letzten Minuten optisch ein wahres Eye Candy. Es ist Herbst, es ist Gruselsaison, es gibt Süßes und Saures – und Der kleine Horrorladen kommt zurecht im Pott mal wieder verdammt gut an.
Und so sieht das aus (Imagefilm, Musiktheater im Revier):
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Foto von Christopher
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