Disneys Hercules, Stage Theater Neue Flora Hamburg, 23.03.2024

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Eine große Musicalpremiere feiert Hamburg meist ein- bis zweimal jährlich. Das ist natürlich immer ein Spektakel und berichterstattungswürdig – handelt es sich gar um eine Weltpremiere, reden wir hier über ganz andere Dimensionen. Nicht irgendeine Weltpremiere von einer kleinen, süßen Show auf dem Kiez, nein – tatsächlich eine Weltpremiere von einem Disney-Musical. Who the hell is Broadway? Hercules ist nach mehr als einem Dutzend Disney-Filmen, die es bereits auf die Bühne schafften, nun also der nächste 90s-Film, der zum Musical-Evergreen avancieren darf.

Ja, das ist zweifelsfrei eine Sensation. 1994 gab es mit „Die Schöne und das Biest“ erstmalig eine Broadway-Adaption, genau drei Jahrzehnte später sind viele, aber ganz besonders „Der König der Löwen“ und „Tarzan“ zu absoluten Klassikern der Gattung geworden. Erstes läuft ununterbrochen seit 22 Jahren im Hamburger Hafen. Mit dem jüngsten Hit „Die Eiskönigin“ ist auch der einnahmenstärkste Disney-Streifen erfolgreich umgesetzt und begeistert noch bis zum Spätsommer direkt neben dem Löwen-Bruder in der Metropole im Norden. Doch nichts davon wurde in Deutschland getestet, stattdessen liefen diverse Shows schon mehrere Jahre überaus erfolgreich in New York und in London. Dementsprechend ein wahres Privileg für Hercules und eine unglaubliche Chance, Hamburg sogar international in den Fokus zu rücken. Ausnahme: 1999 war Berlin schon mal Ehrengastgeber und zeigte die Weltpremiere von „Der Glöckner von Notre Dame“, schaffte es allerdings bis heute weder an den West End noch an den Broadway.

Der 35. abendfüllende Film aus der bekanntesten Trickfilm-Schmiede der Welt lief 1997 an. Das ist eine ganze Weile her, sodass diejenigen, die ihn damals im Kino oder auf der good old VHS käuflich erworben haben, vielleicht nicht mehr ganz im Thema sind. Ist das nicht dieser muskelbepackte Ginger-Typ mit dem Zahnarzt-Smile, der den Gött*innen abhanden gekommen ist? Genau der. Wer vor seiner Hamburg-Reise nochmal Erinnerungslücken ausfüllen mag, kann sich mit Disney+ leicht Abhilfe schaffen.

Stage Theater Neue Flora ist der wundersame Ort, an dem das Spektakel geschieht. Hier lief die sensationelle Inszenierung von „Tarzan“ oder die Europapremiere von „Aladdin“, aber auch die mutige neue Version von „Wicked“, hier fiel unzählige Male der Kronleuchter im „Phantom der Oper“ und zuletzt gab es ABBA-Songs in „Mamma Mia“. Nach zwei Wochen voller Preview-Shows – die sind dafür da, um zu gucken, wie das Publikum reagiert, aber auch, ob die Cast fit ist, alle Abläufe, der Ton und diverse Umbauten sitzen – gibt es am 23.3., einem Samstag, eine Generalprobe. Und zwar eine verdammt wichtige. Die letzte Preview läuft sowohl vor vollem Haus als auch in erster Linie vor einer riesigen Schar an Pressevertreter*innen. Einen Tag später, am 24.3., gibt es dann die große Weltpremiere und den Startschuss zu Hercules, das fortan nicht nur die Produktionsfirma Stage in noch höhere Ligen katapultieren soll, sondern sich eben auch mit diesen ganzen Flaggschiffen messen muss.

Wohl oder übel ist das wohl der Moment, an dem man sagen muss: Das funktioniert nicht. An Hercules hat man eben wegen des Weltpremieren-Aushängeschilds natürlich super hohe Erwartungen, die jedoch schlichtweg nicht erfüllt werden. Ein gewagter, selbstüberzeugter Griff nach den Sternen, der allerdings über das Lesen des Tageshoroskops auf web.de nicht hinwegkommt.

Es ist eine Aufgabe voller Druck. Disney-Musicals sind Unterhaltung für die ganze Familie. Sie sind Zufluchtsorte und Parallelwelten, sie saugen dich ein und spucken dich mit überfülltem Herzen am Ende wieder aus. Wir alle erinnern uns an das nicht weniger als perfekte Opening in „Tarzan“ oder das erste Mal Zusehen, wenn der erwachsene Tarzan über die Köpfe der Ränge schwingt. Viele bekommen immer noch Gänsehaut, wenn sie an die Schlucht in „König der Löwen“ zurückdenken. Oder wie opulent die Höhle in „Aladdin“ gestaltet ist. Und natürlich hat auch Elsa und ihr „Lass jetzt los“ kurz vor der Pause mit fliegenden Handschuhen und einem funkelnden Quickchange für ein Bild im Kopf gesorgt, an das man einfach ganz automatisch denkt, wenn jemand über das „Eiskönigin“-Musical spricht. Exakt hier liegt das Hauptproblem: Hercules hat keinen einzigen solcher Magic Moments, dafür enorm viele „Das kenne ich doch von…“-Details.

Kurzer inhaltlicher Abriss: Hercules wird von Göttervater Zeus und seiner Frau Hera geboren und hat irrationale Kräfte. Hades, der Bruder Zeus, ist jedoch krankhaft eifersüchtig und fühlt sich von der Familie ausgeschlossen, weswegen er Pläne schmiedet, Hercules´ Kräfte auszuhebeln. Er möchte ihn sterblich machen, sodass ein Aufstieg in das Götterreich unmöglich wird.

Sind wir ehrlich: Es gibt einen Grund, warum Hercules sowieso in kaum einer „Mein Lieblings-Disney“-Rangliste auftaucht. Er ist einfach nur ganz nett. Solide Unterhaltung, die aber besonders bei Kindern irgendwie nicht so richtig zündet. Eben einer dieser Disneys, die man einmal guckt, nicht zwanzig Mal. So hatte Hamburg per se schon nicht die besten Karten. Ob das live groß zündet? Unklar. Doch auch bei „Tarzan“ war man ja vorab eher etwas pessimistisch, ob und wie man Dschungelatmosphäre ins Theater holt. Einige Zeit später wissen wir: Es klappt, wenn man es richtig macht.

Richtig machen bedeutet in diesem Fall: Gute Ideen, Mut für Neuartiges und möglichst atemberaubende Szenenbilder. Doch offensichtlich war das Kreativteam hinter Hercules damit zufrieden, Durchschnittskost zu liefern. Das Stück hat keinerlei besondere Einfälle, stattdessen wirkt alles wie schon einmal gesehen. Nichts ist wirklich schlecht, aber auch nichts hervorstechend gut. Jedes Kriterium geht mit einem „Befriedigend“ durch – aber will man das?

Pluspunkt: Das mit 12 Personen besetzte Orchester unter der Leitung von Hannes Schnauz ist für 2024-Verhältnisse überdurchschnittlich groß und spielt ab Sekunde 1 einen starken Sound, der klangvoll durch die volle Flora hallt. Mit der lebenden Legende und dem achtfachem Oscar-Gewinner Alan Menken, der bereits die Musik zum Film, aber auch unter anderem die unsterblichen Soundtracks für „Arielle“, „Die Schöne und das Biest“, „Aladdin“, „Pocahontas“, „Der Glöckner von Notre Dame“ oder Musicals wie „Der kleine Horrorladen“ und „Sister Act“ schrieb, hat man denjenigen als Komponisten gewonnen, der schon in den 90ern am Start war. Umso erstaunlicher, dass besonders die Musik eines der Lowlights ist, doch dazu vielleicht etwas später mehr.

Hat Stage mit „Hamilton“ im Herbst 2022 im Hamburger Operettenhaus einen echten Volltreffer gelandet, bei dem besonders häufig die starke Cast Erwähnung fand, dachte man sich, dass man einfach einige der beliebtesten Darsteller*innen für die neue Show übernimmt. Darunter besonders auffällig: Der Brasilianer Benét Monteiro, der auch schon als Alexander Hamilton mit Lob überschüttet wurde, spielt die Hauptrolle. Selbstverständlich geht es in Theaterstücken nicht darum, optisch möglichst nah ans Original zu kommen, aber Benét als Hercules ist wirklich ein zunächst etwas ungewohntes Bild. Auch, weil er zwar eine klar erkennbare, gut trainierte Figur hat, aber während des Stücks nicht der eindeutig muskulöseste Darsteller ist, ständig jedoch alle mit seiner Kraft umhaut. Aber ok. Auch Chasity Crisp ist durch ihre Megaleistung vielen hängengeblieben, sodass sie nun neben vier weiteren schwarzen Frauen als Muse Klio auftritt, die gemeinsam wie Erzählerinnen durch das Stück leiten.

Die Damen, die alle gesanglich unbedingt zeigen wollen, wie hoch sie belten können und wie viele Runs sie hinkriegen, sind zwar positive Beispiele für eine diverse Cast, da sie alle nicht dem Skinny-Modelwahn entsprechen – jedoch scheinen Töne ganz klar über Aussprache zu gehen. Das Quintett wirkt ein wenig wie das Trio in „Dreamgirls“, auch musikalisch wird hier ähnlich gearbeitet. Töne meistens bemerkenswert, einige Male arg over the top, Texte jedoch akzentbedingt höchstens zu 10 Prozent verständlich. Sehr, sehr schwierig, wenn es sich dabei um Rollen handelt, die die Story vorantreiben. Ganz nebenbei ist das Orchester an den Tutti-Stellen so dermaßen laut, dass von den Mikros sowieso nichts mehr bis auf die Plätze durchdringt. Ärgerlich.

Benét als Hercules tritt erstmalig ungefähr nach 20 Minuten auf und hat zweifelsohne bei der Pressepremiere den größten Applaus für seinen Gesang verdient. Der ist mehrfach am Abend große Klasse, in langen Endtönen wunderbar voll und klar. Umso irritierender, dass das wohl bekannteste Solo, „Go the Distance“, hier „Endlich angekommen“, völlig gehastet und durchgepeitscht wirkt. Warum rasen wir hier so? Und warum bekommt genau dieser Song die lahmste Szenerie?

Nächstes Stichwort also: Bühnenbild. Disney-Musicals sind selten die Stücke mit den großen Erzählungen. Eher diejenigen mit großen Gefühlen, die eben auch durch fantasie- und prunkvolle Kulissen entstehen. Hercules hat kein enttäuschendes Bühnenbild, wirklich nicht, aber eben auch kein herausragendes. Die Bühne besitzt einige Drehfelder, um Requisiten zu bewegen. An mehreren Ecken können Personen aus dem Boden hochgefahren werden. Der Rahmen der Bühne ist ähnlich wie das Hauptbild klar den Pfeilern des griechischen Olymps entlehnt. Sie sind groß und ragen zig Meter in die Höhe. Die Rückseite hingegen ist eine große LED-Leinwand, die zwar ständig neue Stimmungen zeigt – oft mit Mosaiksteinen – aber dadurch auch wenig catcht. Sind nun mal Projektionen. 2024 absoluter Standard, deswegen auch nicht mehr so wirkungsvoll. Das Reich Hades‚ ist in düsteren Farbtönen gehalten und besitzt viel Dunkelblau und Grün. Fühlt sich hier noch jemand an Szenen aus „Tanz der Vampire“ erinnert? Gerne mal melden. Eine witzige Idee sind die seelenartigen Geister, die wie Drachen im Wind von der Bühne gezogen werden, wenn Hades eine Lebensschnur durchtrennt und somit seine Widersacher*innen tötet. Ebenso cool: Die versteinerten Zeus- und Hera-Statuen, wenn Hercules mit ihnen spricht.

Hades wird gespielt von Detlef Leistenschneider, der einen soliden Job macht. Viele Wortwitze gehen entweder auf seine Kappe oder auf die von seinen zwei Untertanen Karl und Heinz. Tatsächlich zünden einige Gags richtig gut, sodass häufiger im Publikum laut gelacht wird. Andererseits probiert man gleich mehrfach Küchenpsychologie satirisch zu veralbern. Hades wird ein Mutterkomplex unterstellt, der auch beim finalen Kampf Thema wird. Das ist etwas albern und irgendwie auch unangenehm. Die weibliche Hauptfigur Meg, gespielt von Mae Ann Jorolan, die Hercules Herz erobert, ist weder Fisch noch Fleisch. Ob man sie nun mag oder sie einen eher kalt lässt – am Ende fällt die Entscheidung schwer. Auch hier gibt es seitens der Darstellerin eine ganz nette Performance. Phil, Hercules´ Trainer, dargestellt von Kristofer Weinstein-Storey, soll eigentlich eine der Showstopper-Figuren a la Dschinni oder Olaf sein, kommt aber um Längen nicht an deren Raffinesse und Liebenswürdigkeit heran. Übrigens fehlt das sympathische Pferd Pegasus aus dem Film im Musical gänzlich.

Man möchte ganz viel. Vor der Pause gibt es eine rund fünfminütige, aufwändige Revue, in der Konfetti geschossen wird und das gesamte Ensemble tanzt. Trotzdem springt der Funke nicht über, weil es eben so gewollt wirkt. Wie das Abhaken auf einer To Do. Leute mit guter Laune in die Pause schicken? Check. Der erste Akt dauert 65 Minuten, in denen man gern hin und wieder auf die Uhr schaut, weil die gesamte Inszenierung einfach nie richtig aus dem Quark kommt. Schuld daran sind schockierenderweise auch die unterdurchschnittlichen Songs, die viel Soul sind, sogar ein wenig Funk beinhalten, aber in den Melodien nie richtig durchdringen. Alles bleibt sehr oberflächlich und gewöhnlich. Noch schwieriger ist das Libretto im zweiten Akt: Bereits nach 35 Minuten ist Hades besiegt. 35 Minuten? Ja, tatsächlich. Danach gibt es eine Viertelstunde Party, die nur für good Feelings beim Verlassen des Saals gedacht ist. Erneut ein Punkt, der underwhelmed, weil die sowieso schon eher dünne Story hier sehr merkwürdig aufgeteilt wurde und mit Tamtam Aufstockung erfährt.

Die Weltpremiere von Hercules. Diese eine große Chance, ein Disney-Musical erstmalig in Hamburg erleben zu können. Wahrscheinlich hätte man sich mit „Mulan“ oder „Findet Nemo“ einen größeren Gefallen getan oder auch mit der Deutschlandpremiere von „Arielle“. Stattdessen wird ein mittelmäßiger Trickfilm genauso mittelmäßig adaptiert. Der Show fehlt es vor allen Dingen an Besonderheiten, an herausstechenden Details, an Musik, die man wieder hören möchte und an Emotionen. Dadurch belegt es nun den letzten Platz aller Disney-Musicals, die bisher in Deutschland liefen. Diejenigen, die einmal jährlich eine große Produktion für hohe Preise besuchen, sind mit jedem anderen Stage-Stück in Hamburg besser bedient, einfach weil sie in der Flora ihre Erwartungen nicht erfüllt bekommen. Wer unbedingt Hercules mitnehmen möchte, darf gern bis Ende des Jahres warten. Dann folgen mit „& Julia“ und „MJ – Das Michael Jackson Musical“ zwei weitere mit Spannung erwartete Premieren, die hoffentlich beide mehr catchen und dann mit Hercules verbunden werden können. Eine weite Anreise nur dafür ist jedenfalls eher nicht zu empfehlen. Lauscht man diversen Gesprächen nach der Vorstellung im Foyer, wird der Eindruck bestätigt. Euphorisch klingt anders, alle finden’s nett oder ok. Und wer will schon ok?

Und so sieht das aus:

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Foto von Christopher

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