Es sind Themen, die leider nie aus der Mode kommen: Integration. Gleichberechtigung. Diversität. Lediglich die Gruppierung der Menschen, um die es sich dreht, wechselt hin und wieder. In den 60ern in den USA ist das gemeinsame Auftreten von Weißen und Schwarzen in TV-Sendungen noch undenkbar. Hier knüpft der Broadway-Superhit Hairspray an, der aber neben dem wichtigen Statement für BIPoC gleich auch noch Body Positivity mit einstreut. Dank des Theater Bonn läuft es erstmalig seit der Pandemie wieder in NRW und feiert nun Premiere.
Am 20.10., einem Sonntag, geht es bereits um 18 Uhr los. Eine wirklich sehr freundliche Uhrzeit, wenn am nächsten Tag doch schon wieder die Arbeitswoche beginnt. Um 20:40 Uhr ist man mit dem Zweiakter, der erst gute 70 und dann nochmal rund 65 Minuten dauert, durch. Das dürfte ruhig häufiger mal so sein. Fans von Hairspray, das 2002 am Broadway uraufgeführt wurde, gibt es viele. So einige davon haben sich in Bonn versammelt, freie Plätze sucht man hier vergebens. Außerdem tummeln sich mehrere Angehörige der Cast im Publikum, werden nämlich gleich mehrere Szenen mit lautem Beifall kommentiert.
Doch worum geht’s? Tracy Turnblad ist curvy und nicht gerade beliebt. Ihre Mutter Edna geht wegen ihres Übergewichts nicht mal mehr vor die Tür, ihr Vater Wilbur führt ein erfolgsloses Scherzartikelgeschäft in Baltimore. Insgeheim wünscht sie sich schon ewig, Teil der erfolgreichen “Corny-Collins”-Musikshow zu werden – und tatsächlich gibt es plötzlich ein Casting. Auch wenn zuhause sie nicht alle supporten, so schnappt sie sich dennoch ihre beste Freundin Penny und wird durch ein paar glückliche Zufälle zum Star – und diesen Status möchte sie nutzen, um die Trennung von Schwarzen und Weißen im TV zu beenden.
Hairspray ist ein Feel-Good-Musical der allerersten Güte. Es ist eigentlich nahezu unmöglich, diesem durchweg treibenden Energiefluss aus dem Weg zu gehen und mit schlechter Laune am Ende aus dem Saal zu kommen. Lange war es absoluter Publikumsmagnet am Broadway und lief rund sieben Jahre. In London ging es drei Jahre in die Vollen, sodass Ende 2009 auch die Deutschlandpremiere anstand, nämlich im Musical Dome Köln mit einer wirklich starbesetzten Cast, womit wohl zumindest diejenigen, die damals dabei waren, kaum eine Maite Kelly als Tracy und einen Uwe Ochsenknecht als Mutter Edna – ja, die Mutter wird immer von männlichen Darstellern mit aufwändigem Make-up gespielt – aus dem Kopf bekommen. Doch mindestens genauso grandios ist die 2007 erschienene Verfilmung, in der sich u.a. Zac Efron, John Travolta, Queen Latifah und Michelle Pfeiffer die Klinke in die Hand geben und den Spirit des Bühnenstücks erfolgreich auf die Leinwand holen. Übrigens: Das Musical beruht ebenfalls auf einem Spielfilm aus 1988. Wie schon erwähnt, Bedarf an dem Thema herrscht leider immer.
Und deswegen ist es wahrhaftig eine hervorragende Wahl, das “Grease 2.0”, wie es auch gerne mal genannt wird, zurückzuholen. Das Theater Bonn erhört viele Wünsche der Fanszene und wird somit die 17 Vorstellungen bestimmt immer volles Haus haben. Allerdings kommt die Produktion final leider nicht ganz übers Mittelfeld hinaus. Einige Aspekte funktionieren richtig gut, manche eher nicht so.
Starten wir mit einem dicken Plus: Das Bühnenbild. Äußerst detailverliebt und mit sehr viel Flexibilität gibt es so viele Kulissenwechsel, dass die Augen ganz von allein anfangen zu funkeln. Ein Aspekt, der uns auch schon letztes Jahr bei “Frankenstein Junior” wahnsinnig positiv auffiel. Bonn scheint hierfür ein richtiges Händchen zu haben, wie man Atmosphäre transportiert. Für Hairspray gibt es kaum einen festen Aufbau. Zunächst schaut man von einer Straße in viele kleine Geschäfte, die sich dort in Baltimore befinden, doch dann haben mehrere Aufbauten Vorder- und Rückseite und verwandeln sich so regelmäßig in TV-Studios oder auch Plattenläden. In der Requisite gibt es eigentlich nichts, was es nicht gibt. Besonders überraschend: Ein kleiner Pyroeffekt sowie eine überdimensional große Haarspree-Flasche, aus der dann auch noch die titelgebende, klebende Chemikalie mit vollem Elan herausgeschossen wird.
Was allerdings fast die ganze Premiere über negativ auffällt, ist der Ton. Anfangs sind die Mikrofone der Darsteller*innen viel, viel zu leise, was sich zum Glück noch recht schnell regelt. Dass man aber die Patzer beim Einschalten der Mikrofone kaum zählen kann, ist richtig ärgerlich. Äußerst oft werden Mikros zu spät angemacht, manchmal auch über mehrere Sekunden gar nicht. Ebenso schwierig ist das Abnehmen des 15-köpfigen Orchesters, das zwar unter der Leitung von Jürgen Grimm super spielt und den Rock’n’Roll und Soul der Songs super transportiert, aber sich gegenüber des Publikums am Ende der Bühne hinter einer Scheibe befindet und durch die Boxen nicht so sauber klingt. Der Sound bleibt größtenteils ein wenig leer und wird dem nicht gerecht, was bei der fetten Band möglich wäre.
Glücklicherweise hat man mit Hairspray relativ leichtes Spiel, was das Entertainment angeht. Das Stück besitzt kaum Längen im Libretto, hat einige äußerst witzige Szenen – manche werden mit anzüglichen Humor ein wenig unangenehm – und durchweg guten bis sensationellen Nummern. Ohrwurm reiht sich an Ohrwurm, große Komposition an eine noch größere. Dance Captain Liviana Degen hat ordentlich zu tun, gibt es sehr viele aufwändige Choreografien, für die fast 30 Menschen, die hier zwischenzeitlich alle gleichzeitig wissen müssen, wo sie als nächstes hinspringen. Im Ensemble wird viel Power gegeben, sodass schöne stilvolle Bilder im Tanz entstehen.
Wo wir bei der Cast wären – und die schwankt in der Qualität ganz schön. Unglaublich schade ist, dass gerade in der Hauptrolle Tracy die Besetzung nicht gut gewählt ist. Das Stück lebt durch den unaufhaltsamen Enthusiasmus, die pure Lebensfreude sowie der starken Leistung in Tanz, Schauspiel und Gesang der Hauptdarstellerin. Antonia Tröstl macht das jedoch alles nur ok. Ihr Gesang ist noch ihre stärkste Kompetenz, aber auch schon nur in Ordnung. Schauspielerisch fehlt es ganz klar an Entwicklung und unterschiedlichen Emotionen, das ist doch etwas zu eintönig. Im Tanz hat sie ihr größtes Defizit, sodass man besonders bei dem Überhit “Niemand stoppt den Beat”, der ohne Diskussion zu den besten Musicalsongs der 00s gehört, den Eindruck von angezogener Handbremse hat, damit sie unversehrt durch den irrsinnig schnellen Song kommt. Gerade wenn man da Interpretationen einer Maite Kelly vor Augen hat, ist das doch einfach zu wenig.
Besser macht es ihre völlig überzogen angelegte beste Freundin Penny, die von Friederike Zeidler gespielt wird und herrlich durchgeknallt wirkt. Das ist Overacting an der passenden Stelle. Ebenso drüber, aber auf ganz andere Art ist Kerstin Ibald als Velma van Tussle, die im Gesang absolut überzeugt und dazu herrlich ekelig spielen darf und das auch gern nutzt. Leider ist auch Fin Holzwart als Link, Tracys Angebeteter, nicht wirklich gut besetzt, nimmt man ihm das überirdisch Schöne und Verwegene nicht ganz ab. Stattdessen wirkt er doch eher etwas unbeholfen. Richtig gut wiederum ist Maickel Leijenhorst als Seaweed, der echt starke Moves draufhat, diese mit voller Motivation zeigt, charmant spielt und mit Zeidler als Penny ein Match ergibt – bei Tröstl und Holzwart sind die Funken nicht wirklich da. Liegt es an der Premieren-Aufregung?
Der absolute Star der Inszenierung – und das durfte man so auch durchaus erwarten – ist Enrico de Pieri als Edna. Sowieso ist die Figur natürlich mit viel Liebe und Mitgefühl angelegt. Letztendlich reißt de Pieri, der erste deutsche Dschinni aus dem Musical “Aladdin”, jede Szene an sich, in der er auftaucht. Seine Mimik ist unglaublich facettenreich, sein Gesang immer wunderbar im Ton und sein Zusammenspiel mit Ehemann Wilbur – ebenso wunderbar süß gespielt von Mark Weigel – einfach ganz großartig. Bei so vielen guten Songs ist es auf jeden Fall besonders und sehr nennenswert, dass gerade das Duett “Du bist zeitlos für mich” zum glasklaren Highlight der gesamten Bonner Inszenierung wird. Rührend, lustig und künstlerisch auch auf einem hohen Niveau. Bravo. De Pieri gewinnt sogar im Laufe der zwei Stunden so viele Fans, dass beim Finale “Niemand stoppt den Beat” die Leute bei ihm anfangen mitzuklatschen und zu jubeln.
Letzte Erwähnung: Yannick-Muriel Noah als Motormouth Maybelle. Aufgrund ihres Akzentes wird es an einigen Stellen nicht immer ganz einfach, ihre Texte zu verstehen. Dahingehend hat das Theater Bonn jedoch eine gute Lösung parat, nämlich Übertitel auf Deutsch und Englisch, was es wirklich entschieden zu selten gibt. Das wünscht man sich doch öfter! Noahs Figur ist besonders in der Erzählung wichtig, außerdem hat sie mit “Ich weiß, wo ich war” eine große Hymne mit Aussage. Anfangs läuft das auch noch richtig gut, dass sie dann jedoch bei den hohen Tönen plötzlich in klassischen Gesang stand in Belt wechselt, lässt etwas irritiert zurück. Seltsame Entscheidung. Ist das nicht eigentlich der Moment, in dem die Anführerin der schwarzen Gemeinde so richtig auffahren darf? Fehlt ein wenig.
Ein großer Topf aus vielen Eindrücken. Die einen sind richtig gut, die anderen nur ok. Hairspray im Theater Bonn zeigt ein äußerst hübsches und sehr aufwändiges Bühnenbild, das dem Stück sehr gut steht. Am Ton muss wirklich ganz dringend gearbeitet werden. In der Cast gibt es qualitativ eine recht große Schere, letzten Endes macht Enrico de Pieri als Edna das Stück genauso wie damals bei “Aladdin” und auch in “Wahnsinn” zu seiner persönlichen Show. Wahrscheinlich braucht es fürs gesamte Team ein paar Runden, bis alles gut eingespielt ist. Die Voraussetzungen stimmen allemal. Und am Ende des Abends schläft man ja so oder so mit den ikonischen Melodien ein.
Und so sieht das aus (Szene aus dem Film von 2007):
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Bild von Christopher
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