Mamma Mia!, Freilichtbühne Tecklenburg, 14.06.2024

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Im Juli 1924 lief mit „Wilhelm Tell“ von Schiller erstmalig ein Theaterstück auf der Freilichtbühne in Tecklenburg. Das ist in wenigen Wochen unglaubliche 100 Jahre her. Das haben also wenn überhaupt die Eltern unserer Großeltern mitbekommen. 2024 gehört man im Musicalbereich schon längst zu den bekanntesten, schönsten und bestbesuchten Open-Air-Locations des ganzen Landes und darf sich für sein stattliches Jubiläum gern auf die Schulter klopfen. Auch von uns: Happy Birthday! Und besondere Geburtstage brauchen besondere Partys. Die erste große steigt am 14.6. mit Mamma Mia!.

ABBA ist wieder absolut im Trend – wobei, ganz ehrlich: War ABBA jemals out? Alle paar Jahre gibt es eine neue Erfolgswelle der schwedischen Kultband, die immer noch weltweit zu den zehn erfolgreichsten aller Zeiten zählen. Nach der Auflösung Anfang der 80er machte man mit der Greatest-Hits-Compilation „ABBA Gold“ im Jahre 1992 der nachfolgenden Generation die Oldies nahbar, 1999 folgte der nächste große Meilenstein, nämlich das ABBA-Musical Mamma Mia!, das fast alle Songs der Best-of-Platte involvierte. Wer auch da noch nicht vom Fieber gepackt war, hatte 2008 mit der dazugehörigen gleichnamigen Musical-Verfilmung die nächste Chance. 2018 folgte schließlich noch eine Fortsetzung zum Film, 2021 jedoch mit „Voyage“ das erste Album der Band nach über vier Dekaden, und das sogar in Originalbesetzung. Die vor zwei Jahren gestartete Hologram-Show mit selbem Namen in London setzt dem erneuten Hype eine ganz besondere Krone auf.

Eine Geschichte voller Superlative, die nicht perfekt wäre, wenn nicht auch Mamma Mia! als Bühnenfassung komplett einschlägt. Seit genau 25 Jahren läuft das Jukebox-Musical – also ein Musical, das bereits etablierte Musik verwendet; hier im Genauen übrigens ein Künstlerkatalog-Musical und somit mit Musik von nur einem Act – weltweit und kann durch den ständig wieder aufkommenden Erfolg des Schweden-Quartetts quasi immer irgendwo besucht werden. Gestartet ist man damals am Londoner West End, wo man seitdem pausenlos spielt, zwei Jahre später am Broadway, wo man mit über 5700 Vorstellungen aktuell Platz 9 der meistgespielten Stücke belegt, und 2003 schließlich auch in Deutschland im Hamburger Operettenhaus. Rechnet man das Ganze hoch kommt man also auch im Musiktheatergenre in die Top 10 der erfolgreichsten Musicals auf diesem Planeten.

Somit hat sich die pittoreske Freilichtbühne Tecklenburg eben ein besonders opulentes Stück ausgesucht, das seine deutschlandweite Open-Air-Premiere feiert, hier bisher nicht lief, jede*r kennt und das die Erfolgsgeschichte der Bühne aber auch des Musicals weiterschreibt. Doch gleichzeitig ergibt sich eben ein Problem: Es ist ein Stück, das jede*r kennt. Das, wie bereits erwähnt, immer irgendwo läuft. Setzt das Team ansonsten auch gern auf eher Untypisches und selten Aufgeführtes, geht man hier den sichersten Weg überhaupt, der gleichzeitig für die Community etwas ernüchternd ist. Mit der zweiten großen Premiere „3 Musketiere“, die Mitte Juli folgt, bleibt man sich hingegen wiederum treu. Ok, fairer Kompromiss.

Trotz parallellaufendem EM-Eröffnungsspiel der deutschen Fußballnationalmannschaft sucht man freie Plätze besser mit dem Fernglas. An jenem Freitagabend ist Tecklenburg wieder der Ort des Geschehens. Viele kommen aus dem gesamten Bundesland angedüst, um sich von der besonderen Atmosphäre und der immer hohen gebotenen Qualität mitreißen zu lassen. Kann man sich auf eines in Tecklenburg verlassen, ist es die wirklich starke Arbeit, die geleistet wird, und die sich in sehr vielen Details wiederfinden lässt. Hier wird gut gecastet, gut geprobt und von den Darsteller*innen toll auf, gleichzeitig aber von dem Orchester auch toll unter der Bühne gespielt. Das soll sich auch bei Mamma Mia! nicht ändern. Mit 30 angesetzten Terminen – zwei kamen vor Kurzem aufgrund der hohen Nachfrage im Vorverkauf dazu – gibt es bis in den September genug Möglichkeiten, um einen Hauch Griechenland im Münsterland zu spüren.

Sollte tatsächlich jemand weder die Bühnenversion noch die Verfilmung bisher gesehen haben, gibt’s an dieser Stelle den Plot in wenigen Sätzen: Sophie möchte ihren Verlobten Sky heiraten. Sie wurde von ihrer Mutter Donna allein großgezogen und weiß bis heute nicht, wer eigentlich ihr Vater ist. Die Hochzeit, die in der Taverne ihrer Mutter auf einer griechischen Insel, wo Sophie auch gezeugt wurde, stattfinden soll, nimmt die 20-jährige zum Anlass, um mögliche Kandidaten einzuladen – wird sie herausfinden, wer die Antwort auf all ihre Fragen ist?

Das ist auch schon alles. So viel mehr passiert in der Handlung, die in Tecklenburg in zwei Akten mit jeweils fast 70 Minuten Spielzeit gezeigt wird, nicht. Na gut, es gibt dem Anlass entsprechend ganz schön viel Trubel und Drama, sorgt das Wiedersehen mit den Verflossenen schließlich nicht bei allen für Freude. Doch Mamma Mia! lebt eh fast ausschließlich durch seine Songs, um die die Handlung damals herumgespinnt wurde, was vergleichsweise sogar sehr gut gelungen ist. An vielen Stellen entsteht das Gefühl, dass die Texte wirklich für das Musical geschrieben wurden, da sie ein super Match ergeben. Man merkt eben, dass sich 1999 für das frische Subgenre der Jukebox-Stücke mehr Mühe gegeben wurde, als es gegenwärtig der Fall ist. Gespielt wird übrigens die meist gelungene, manchmal aber auch durch einen Sprachmix arg gekünstelt wirkende deutsche Übersetzung, die auch die Songs betrifft. Einzige Ausnahme: „Waterloo“ in der Zugabe bleibt im englischen Original.

Hat Tecklenburg ansonsten einen großen Nachteil, nämlich die wenig wandelbaren Bühnenbilder, wirkt Mamma Mia! wie die perfekte Auswahl: Selten hat man sich auf der Freilichtbühne so gut in die Handlung gebeamt gefühlt wie dieses Mal. Die Aufbauten der griechischen Taverne passen einfach fantastisch in die Gemäuer der Burgruine. Ein paar kleinere Nebenschauplätze – zum Beispiel in einem Holzboot – und man findet alles, was man braucht, hat das Stück eben wenig wechselnde Szenerien. Schöne Farben und ein paar witzige Requisiten wie Sonnenliegestühle runden das Setting ab. Noch stärker wird das Auge aber durch die wirklich phänomenalen Choreografien gefordert, die aus sehr vielen Titeln das absolute Maximum herausholen. Mit fast 50 Menschen in der Cast entstehen so wahnsinnig starke Bilder, die mit viel Elan, Inbrunst und Synchronität richtig Spaß machen.

Wird ansonsten die Welt von Männern dominiert, ist Mamma Mia! das Stück mit den starken Frauenrollen. Für die zwei wichtigsten Charaktere hat man zwei Darstellerinnen gefunden, die ihre Arbeit ohne Mäkel ausführen. Celena Pieper ist nach ihrer Performance als Anna in „Die Eiskönigin“ in Hamburg nun in einer Rolle angekommen, die ihr wirklich grandios steht. Als Sophie hat sie äußerst viel Spielzeit und ist für viele nachdenkliche Momente zuständig, die sie alle mit Leichtigkeit und Sanftmütigkeit meistert. Ob Tanz, Schauspiel oder Gesang – alles gar kein Thema für die 28-jährige, die einen mehrfach abholt.

Einzig und allein Wietske van Tongeren muss sie sich geschlagen geben. Die Niederländerin brachte schon im letzten Jahr in Tecklenburg mit ihrer Darstellung in „Mozart!“ die Massen zum Aufspringen. Auch wenn es 2023 zwar mehr herausfordernde Nummern zum Singen gab, trumpft sie hier vollends auf. Ihre Donna ist wahnsinnig dynamisch, voller Energie, strahlend, überzeugend und tough, dass man ihr sowohl ihre Lebensfreude als auch ihre tiefe Trauer zu jeder Sekunde abnimmt. Ihr gehört auch der einzige wirklich tiefemotionale Moment, nämlich das für sich allein stehende „Der Sieger hat die Wahl“ („The Winner Takes It All“), bei dem sie all ihre aufgeladene Enttäuschung und Wut gegenüber Männern entlädt und für pure Gänsehaut sorgt. Ganz, ganz großartig.

Wäre da nicht das Publikum. Das Publikum? Ja, tatsächlich ist ein elementares Problem am Premierenabend in Tecklenburg nicht das, was vor einem, sondern neben und hinter einem passiert. Schon auf dem Weg zur Location trifft man auf kleine Grüppchen, die sich mit lauter ABBA-Musik, Würstchen und Sekt den Abend feuchtfröhlich machen, bevor es eigentlich losgeht. Darf man bis auf den Sitzplatz Decken, Snacks und Drinks mitnehmen, ist das für jene Vorstellung zwar besonders heimelig, aber für die Atmosphäre so gar nicht von Vorteil. Selten wird während eines Stücks so viel und so laut geredet. Ständig hört man Kommentare und bei jedem Song muss deutlich gemacht werden, dass man ihn auch erkannt hat, in dem man der Nachbarin oder dem Nachbarn den englischen Originaltitel nennen muss. Doch besonders schlimm ist das permanente Mitklatschen. Sobald ein Schlagzeug einsetzt, scheint das bei den Besucher*innen eine Taste zu aktivieren: Jetzt bitte die Hände rhythmisch zusammenbewegen. Dabei wird zum Glück nicht, wie es sonst im unmusikalischen Deutschland üblich ist, auf 1 und 3 geklatscht, sondern einfach auf allen vier Vierteln. Die ganze Zeit. Ununterbrochen. Bei jedem Song. Bis auf „Unter Beschuss“ („Under Attack“), das anscheinend zu wenige kennen. Hier darf man einfach mal Celena Pieper zuhören und auch den Text mitverfolgen, der sonst sehr oft vom Klatschen übertönt wird. Schön, dass so viele Menschen hier Spaß haben, darum sind wir ja alle da. Aber am Ende ist es dann doch noch Musiktheater und kein Konzert. Bei zwei, drei Songs mal mitzuklatschen, ist völlig fein, im Finale oder bei der im Publikumsraum stattfindenden Nummer „Dancing Queen“ laut zu sein gar ausdrücklich erwünscht. Aber das ist einfach nur nervig und wirkt wie ein Besuch beim ZDF Fernsehgarten – wo wir auch wieder beim Sektchen wären, nicht wahr?

Auch der Humor im Stück gibt dem Ganzen leider einen dicken Trash-Touch. Schenkelklopfer-Gags, die schon Sekunden vorher erahnt werden können und unzählige anzügliche Sprüche, bei denen man sich peinlich berührt fühlt, machen Mamma Mia! in Tecklenburg zur Boomer-Party. Da wäre weniger wirklich mehr. Besonders ärgerlich, weil ja so viel stimmt. Neben den beiden erwähnten Darstellerinnen sind nämlich auch Navina Heyne als Rosie und Rachel Marshall als Tanja unterhaltsame Persönlichkeiten. Selbst wenn durchweg Klischees bedient werden, sind auch die wenig fordernden Männerrollen Sam, Bill und Harry solide besetzt, wobei besonders der talentierte Oliver Arno als Sam nicht mal in Ansätzen zeigen kann, was er eigentlich draufhat. Einzige Enttäuschung: Andrew Chadwick als Sky hat als Hauptaufgabe nur gut auszusehen. Schauspielerisch und gesanglich kommt da eher wenig. In einer Szene darf er sich dafür ausziehen, was einen erneut zum Wegcringen bewegt.

Mamma Mia! in Tecklenburg ist in vielen Punkten wirklich top. Die Cast ist in großen Teilen hervorragend aufgelegt, die große Menge an Menschen sorgt für starke Bilder, die Bühne ist wunderhübsch aufgebaut. Das Orchester unter der Leitung von Giorgio Radoja spielt gewohnt klasse, übertüncht jedoch an einigen Stellen die Mikrofone, sodass manches unverständlich bleibt. Allerdings muss man im Humor, noch mehr aber beim Publikum enorm viel Toleranz mitbringen, um dem Ganzen mit Freude anstatt mit Frust beizuwohnen.

Und so sieht das aus (Szenen aus der Hamburger Produktion, 2022):

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Foto von Christopher

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