West Side Story, Grugahalle Essen, 10.01.2023

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Um 19:46 Uhr beginnt mit einer Viertelstunde Verspätung die erste Aufführung von West Side Story in der Grugahalle Essen. Schon nach wenigen Minuten hört man deutliches Murmeln. Die Inszenierung ist auf Englisch. Songs wie Dialoge. Darauf scheinen viele im Publikum nicht eingestellt gewesen zu sein. Hat man sich damit abgefunden, kann man sich aber auf einen wirklich stimmigen Musicalabend freuen.

September 1957. Das ist 66 Jahre her. Leonard Bernstein als Komponist und Stephen Sondheim als Texter schreiben Musiktheatergeschichte. West Side Story wird zum ersten Mal aufgeführt, natürlich in New York. Zwar existiert das Musicalgenre bereits einige Jahrzehnte, zeichnet sich aber in erster Linie als Komödie mit Musiknummern aus. Bernstein und Sondheim hingegen bringen Drama auf die Bühne und die Gattung einer viel größeren Zuschauer*innengruppe näher. Sie zeigen Modern-Jazz-Choreos und lassen Sounds zwischen Latin, Jazz und Broadway-Ballade hören. Das ist frisch, anders, mutig – und wahnsinnig erfolgreich. Das Stück gehört bis heute zu den 50 am häufigsten aufgeführten Musicals in New York und darf zurecht Kult genannt werden.

Sowieso gehört es zu den ganz, ganz wenigen, die überhaupt so lange Zeiten überstanden haben. Was fällt einem sonst noch in der Größenordnung ein? „My Fair Lady“, womöglich „Singin‘ In The Rain“, Amis würden vielleicht noch „Hello Dolly!“ oder „Annie Get Your Gunn“ erwähnen, aber dann hört’s auch schon auf. Musicals sind immer ein Stück weit Zeitgeist, der wohl oder übel vergehen wird. Doch West Side Story bleibt wie das nicht untergehende Flaggschiff. Das liegt nicht zuletzt an der völlig umjubelten Verfilmung aus 1961, die wahnsinnige zehn Oscars gewinnen konnte – bis heute liegt der Rekord bei elf Oscars für einen Film – und der Neuverfilmung von Steven Spielberg aus 2021, die zwar nur einen Goldjungen kassierte, generell aber von Kritiker*innen dennoch mit viel Lob berücksichtigt wurde.

Seitdem erlebt West Side Story wieder einmal ein kleines Revival. Retro ist schick, Gutes kommt aber sowieso nie aus der Mode. Genug Anlass, um diesen riesigen Klassiker zurück auf deutsche Bühnen zu bringen. Zwar läuft die Musical-Urgroßoma sowieso immer in irgendwelchen Stadttheatern, aber natürlich ist es nochmal ein Unterschied, wenn man sich an eine größere, aufwändigere Inszenierung traut – und sogar echte New Yorker*innen im Cast mitbringt. BB Promotion (aktuell hoch im Kurs mit „Moulin Rouge“ in Köln) schaut erneut ein wenig an den Rand der Bubble und macht es möglich.

Zurück zur englischen Sprache: Wenn in New York für die Tournee gecastet wird, hätte man sich wahrscheinlich schon denken können, dass die Darsteller*innen die Songs nicht auf Deutsch singen und die Dialoge nicht auf Deutsch sprechen. Aber fair enough: Man kann nicht immer erwarten, dass sich die Ticketkäufer*innen bis ins Detail perfekt auf ihren Besuch vorbereiten und das Internet studieren. Doch letztendlich ist die neue Produktion, die in Teilen auch neue Ideen einstreut, insgesamt aber sehr klassisch bleibt, auch trotz Textbarriere für manche vor der Bühne wohl durchaus sehenswert. Nur die Allerwenigsten werden hier weder das Stück zuvor live noch als Film gesehen haben, sodass man auch durch die bloßen Bilder sowie Gestik und Mimik gut durch die Handlung geführt wird.

Im Dezember fiel in München der Startschuss zur Tour, Essen ist erst der zweite Stopp auf der Landkarte. Man nimmt bis zum April noch einige weitere Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit, zieht dann für kurze Zeit nach Irland und hält zum Ende des Jahres für zwei Monate in Paris. Viele Orte werden lediglich für sechs Tage bespielt, also Augen auf.

Das Parkett ist nahezu voll, auf dem Rang in der Grugahalle sind gut zwei Drittel der Plätze belegt. Der 10.1., ein Dienstag, ist regnerisch und somit perfekt geeignet für einen Theaterbesuch. Leider ist die Grugahalle nur kein Theater. Hier liegt bereits der stärkste Kritikpunkt: Das Colosseum Theater wird schmerzlich vermisst. Nun merkt man es wieder ganz besonders. Ein wirklich tolles Theater, was gefühlte Ewigkeiten alle wichtigen Shows zeigte. Seit Corona nutzt man die Halle anderweitig. Da gleichzeitig auch das Metronom in Oberhausen dichtmachte, fehlt es dem Ruhrgebiet an gleich zwei tollen Ecken. Deswegen ist es natürlich besser, West Side Story macht in der Grugahalle Halt als gar nicht. Aber die wirklich in die Jahre gekommene Halle macht optisch sauwenig her.

Aber genug der negativen Vibes. 15 Minuten Verzögerung, unatmosphärische Venue, eine englischsprachige Inszenierung, die nicht jede*r im Raum versteht und keine Übertitel bietet – fast alles andere ist dafür richtig gut. Die erst 80, dann 55 Minuten lange Aufführung zeigt klassisches, stimmiges Musical. Frei nach dem Motto „What you see is what you get“, bleibt West Side Story nostalgisch und old-schoolig, wird nicht in ein merkwürdiges Pop-Korsett gequetscht und auch nicht im Bühnenbild ins All verlegt. Die Tourproduktion klingt nach West Side Story, sieht so aus und fühlt sich so an. Richtig so.

Man weiß gar nicht recht, ob man die Show vielleicht schon als minimalistisch oder gar edgy beschreiben sollte, einfach aus dem Grund, weil das Auge im Jahr 2023 eine ganz andere Reizung gewohnt ist. Hier wird nicht mit Konfetti geschossen, es werden keine Feuereffekte eingesetzt und auch wenig Anstößigkeit geboten. Die weiße New-Yorker-Gang Jets hasst die Puerto-ricanische Bande Sharks und umgekehrt – allerdings gibt es einen waschechten Schockverliebt-Moment zwischen Tony von den Jets und Maria, der Schwester von Bernardo, dem Anführer der Sharks. Damit nimmt das Unheil seinen Lauf.

Romeo & Julia in Musicalgewand ist nicht wirklich kreativ, aber in den 50s äußerst effektiv. Es passt auch einfach zu vielen Lebensumständen. Das mag zwar heute altbacken wirken, ist aber auch in 2023 immer noch nicht so weit hergeholt. Kramt man ein wenig im Kopf, findet sich sicherlich eine Geschichte aus dem nahen Umfeld mit ähnlichen Komplikationen. Doch sowieso lohnt es sich in Essen und mit Sicherheit auch in den noch kommenden Städten den Fokus auf das zu legen, was die über 30-köpfige Cast fabriziert, denn das ist ziemlich viel. Die größtenteils sehr jungen Darsteller*innen haben authentische Kostüme an, einige der Männer wirken wie James Dean. Speziell in den Choreos punktet West Side Story auf vollster Linie und wirkt richtig stilvoll, gut im Timing und bezaubernd schön.

Das Bühnenbild macht zunächst einen etwas spärlichen Eindruck, der jedoch täuscht. Die straßenartige Kulisse, die zum Großteil aus einem mehretagigen Gebäude besteht, hat etwas von einem Puppenhaus. Hier wird was aufgeklappt, da wird es in die passende Richtung gedreht und auf einmal sieht alles ganz anders aus. Das ist klug gemacht und holt das Maximum aus einer Tourproduktion, die nur so wenige Tage vor Ort bleibt. Ein Megahighlight: Der Klang. Die Tontechnik liefert allererste Sahne, sind nämlich sämtliche Instrumentalist*innen – die man leider kein einziges Mal sehen wird – fantastisch gemischt und mit den Stimmen der Darsteller*innen im Einklang. Das könnte man easy genau so aufnehmen und verkaufen, weil es einfach so wohltut im Ohr. Ein paar Dezibel lauter ginge aber trotzdem.

Gesanglich machen hier alle alles richtig, falsche Töne sucht man vergeblich. Jadon Webster als Tony singt wunderbar weich, verträumt und liefert mit „Maria“ ein hervorragendes solo. Melanie Sierra als Maria ist nicht weniger erwähnenswert, hat sie eine leicht dunkle Sopranstimme, die sie perfekt einzusetzen weiß. Klassisch, aber nie zu opernartig. Beide sind mit ihren Stimmen ganz, ganz vorne dabei, präsentieren mit „Tonight“ eine Gänsehautperformance, haben jedoch auffällige Defizite im Schauspiel. Ab und an wird es besonders bei Webster etwas doof-trottelig, geht aber irgendwie noch klar. Im Gesamten ist hingegen Kyra Sorce als Anita die Stärkste.

West Side Story hat Hits. Songs, die fast 70 Jahre später noch funktionieren und auch in Essen wieder sofort ins Ohr gehen. Das tolle Orchester unter der Leitung von Grant Sturiale spielt super, die Menschen auf der Bühne tanzen plus singen super und spielen immerhin fast alle solide. Um dem Paket ein persönliches i-Tüpfelchen zu geben, dürfen sich Zuschauer*innen im zweiten Akt auf eine traumhafte Umsetzung von „Somewhere“ freuen, die kurz wie eine Parallelwelt wirkt und einfach einen exzellenten Störer im ansonsten sehr runden Bühnenbild zeigt. Die Szene nimmt man auf jeden Fall mit nach Hause.

Classy. Das trifft es wohl am besten. Wenig Tamtam, dafür in seinen Kernkompetenzen fast durchweg ohne Makel: West Side Story ist für Musical- und Theaterfans mindestens einmal im Leben Pflicht. Weit weg von Eye-popping, aber das wäre dann auch einfach eine fragwürdige Abwandlung des berühmtberüchtigten Stoffes. Mehr kann man von dem BernsteinSondheim-Klassiker nicht erwarten. Fand man diese Inszenierung blöd, muss man es mit West Side Story eben lassen.

Und so sieht das aus:

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Bild von Christopher.

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2 Kommentare zu „West Side Story, Grugahalle Essen, 10.01.2023“

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