“Auf TikTok gibt es doch nur Tanzvideos und das benutzen doch sowieso nur 14-Jährige” – dass dieses Vorurteil mittlerweile nun wirklich nicht mehr stimmt, sollte den meisten mittlerweile klar sein. Aber nicht nur das: Für Musikfans eröffnet sich auf TikTok fast schon eine ganz neue Welt, in der man jeden Tag neue Songs entdecken kann. Da wären natürlich zum einen die Tracks, die quasi schon für die Plattform konzipiert wurden und deshalb dort viral gehen. Es gibt aber auch eine Menge Songs, die wir zwar dort entdeckt haben, die aber eigentlich viel mehr sind als nur ein viraler TikTok-Trend. Und um die soll es heute in “Die Liste” gehen – von HipHop bis Pop, von den 80ern bis 2021, hier ist alles mit dabei.
Le Tigre – Deceptacon
Es sind nicht nur brandaktuelle Songs, die auf der Plattform viral gehen. Oft sind es gerade alte Klassiker, die hier in neuem Kontext einer noch unbekannten Zielgruppe näher gebracht werden. Im Fall der Post-Riot-Grrrl-Urgesteine Le Tigre und ihres ursprünglich bereits 1999 veröffentlichten Hits „Deceptacon” passt die Wiedergeburt. Der Song wurde im vergangenen Jahr nämlich urplötzlich der Soundtrack zur Präsentation unnötig-quälender Fragen, denen sich vor allem weiblich gelesene Personen ausgesetzt sehen. Näher könnten die feministische Haltung der Musiker*innen und die Message der Wiederverwertung wohl nicht liegen: Ein zweites Leben für den richtigen Zweck sozusagen. (Jonas)
Cheese People – Wake Up
Schaut man sich die Künstler:innen-Seite der Cheese People auf Spotify an, dann ist „Wake Up“ der Song mit den mit Abstand meisten Klicks, obwohl er nur etwas über eine Minute lang ist – und das hat er mit Sicherheit auch TikTok zu verdanken, obwohl der Song mittlerweile schon 13 Jahre alt ist. Ich zumindest hatte vorher noch nie von der eher unbekannten Band aus Russland gehört. Dabei hat der Song wirklich alles, was ein catchy Indierock-Song benötigt und erinnert hier und da sogar an Le Tigre oder Bikini Kill. Auch wenn mich die anderen Songs der Band persönlich nicht so richtig überzeugen – „Wake Up“ verdient deutlich mehr Aufmerksamkeit, als die 15 Sekunden, die man durch TikTok kennt. (Emilia)
Wa22ermann – Salsa
Was denn? Wasser! Es wird wieder gerappt, in Berlin, von einer jungen Frau, die sich unter dem Pseudonym “Wa22ermann” hinters Mic stellt. Man weiß nicht viel über sie, sie hält sich noch bedeckt, schüchtern ist sie aber nicht. “Salsa” ist bislang der einzige Track der Künstlerin, sie rappt mit einer Selbstverständlichkeit und Lässigkeit, die man zuletzt vielleicht bei Symba gesehen hat. Der Beat stampft, der Bass vibriert, während sie darüber rappt, dass sie macht was sie will und sich alle viel zu ernst nehmen – sie hat darauf keinen Bock mehr, Mittelfinger hoch. Die Welt dreht sich weder um dich, noch um mich, also mach doch was du willst. Gerade als junge Frau macht das Mut und empowert. (Leonie)
Patrice Rushen – Forget Me Nots
Auch wenn das Publikum auf TikTok doch eher jung ist und vor allem aus Mitgliedern der Gen Z besteht, sind 80er Hits, die auf der Plattform viral gehen, keine Seltenheit. Und dass dabei so einige zeitlose Banger aus den Tiefen der 1980er Jahre an die schnelllebige Benutzeroberfläche unserer Smartphones befördert werden können, zeigt der Song „Forget Me Nots“ von der amerikanischen RnB-Künstlerin Patrice Rushen aus dem Jahr 1982 mal wieder sehr eindrücklich. Der musste nämlich in den vergangenen Monaten schon für so einige (Tanz-)Challenges auf TikTok herhalten – war dabei aber im Gegensatz zu vielen anderen Sounds nie nervig. Stattdessen hat er sich mit seiner eingängigen Bassline sicherlich nicht nur in einige meiner Playlists eingeschlichen – das nenne ich mal ein Revival. (Emilia)
Molchat Doma – Sudno (Boris Ryzhy)
Unterkühlte New Wave-Drum Machine, simplifizierte Hall-Gitarren, abgehakt-melancholischer Sprechgesang – besser und passender könnte das abgefuckte Spannungsverhältnis zwischen belarussischen Aufbruch-Mindset und post-kommunistischer Quasi-Diktatur nicht eingefangen werden. Drei Alben voll dystopischem New-Wave veröffentlichten Molchat Doma aus der belarussischen Hauptstadt Minsk bislang. Im Frühjahr 2020 dann ging „Sudno (Boris Ryzhy)” („Судно (Борис Рыжий)” auf russisch) auf Tiktok viral und bewies: Post-Punk spricht auch im 21. Jahrhundert noch zu jungen Menschen. Das wohl auch, weil die Trostlosigkeit, die Sound und Text transportieren, perfekt die triste Einsamkeit der weltweiten Shutdowns abbildete. Im vergangenen Herbst dann tourte die Band vor erweitertem Fankreis durch ausverkaufte europäische Hallen. Ein bemerkenswertes Stück Popkultur, eine bemerkenswerte Band. (Jonas)
Edwin Rosen – leichter//kälter
Sommer 2021. Überall läuft Edwin Rosen, leichter//kälter, verschwende deine Zeit. Auf jeder Party, am See, im Park, in Instastories und TikTok-Videos. Man verknüpft eine gute Zeit damit, eigentlich ironisch, denn der Song an sich ist gar nicht so ein prädestinierter Sommerhit. Auf den Synthies vermischen sich Traurigkeit und Romantik, Einsamkeit wird leicht und tanzbar. Aussenseiter-Ästhetik ist wieder cool, Gen Z schwimmt auf der “neuen neuen deutschen Welle”. Hoffentlich tragen uns diese positiven Konnotationen und Erinnerungen durch den Winter, mittlerweile gibt es ja auch eine EP, auf der wir auf 15 Minuten Länge alle Gefühle durchspielen können und seine Club-Tour im Februar 2022 ist restlos ausverkauft.
bbno$ feat. Rich Brian – edamame
Songs, die auf TikTok viral gehen, sind oft nicht gerade ernst gemeint – so auch “edamame” von bbno$, der schon so einige TikTok-Hits landete. Und es ist auch absolut nicht überraschend, dass seine Songs gut ankommen: Ein eingängier, flowiger HipHop-Beat, lustiger Text und das ganze auf knapp über zwei Minuten länge um die Aufmerksamkeitsspanne eines Publikums, das nur kurze Clips gewöhnt ist, nicht zu überfordern – fertig ist der ideale Tik-Tok-Song. Aber “edamame” ist meiner Meinung nach doch mehr als das. Ich mag den Flow von bbno$ wirklich gerne und auch den Vibe, den er mit seinen Tracks transportiert. So nervig TikTok also manchmal sein kann, bin ich doch froh, dass ich durch die Plattform immer wieder neue Musik finde, auf die ich sonst nie gekommen wäre. (Emilia)
Alicee – The Night Is A Place
Als halb asiatische Singer-Songwriterin fand die Studentin Alice sich in der Medienwelt oft nicht repräsentiert. In Deutschland sind die meisten Musiker*inen männlich und weiß. POCs findet man oft im Rap, Hip-Hop oder Soul – aber selten asiatischer Herkunft und kaum im Singer-Songwriter Bereich. Es kostete Alice viel Kraft und Überwindung, unter ihrem Künstlername Alicee Musik zu veröffentlichen – doch die harte Arbeit hat sich gelohnt. Die Musik der auf TikTok promoteten Sängerin wird geprägt von ihrer unglaublich sanften und doch kraftvollen Stimme, die für einige Gänsehautmomente sorgt. Textlich versucht Alicee Themen abzudecken, die man nicht jedem zweiten Song hört. In „The Night Is A Place“ thematisiert sie beispielsweise das Gefühl, nachts nicht so funktionieren zu müssen wie tagsüber und versprüht mit einer gefühlvollen Klaviermelodie mystische Vibes a la Lykke Li. Definitiv eine Künstlerin, die man in Zukunft noch auf dem Radar haben sollte! (Yvonne)
Steve Lacy – Dark Red
Mode-Äras kommen wieder, Musik genauso: RnB ist zurück und Gen Z liebt es. Auf “Dark Red” singt Steve Lacy über eine verflossene Liebe, fleht sie an, bei ihm zu bleiben, schwenkt aber schlussendlich in ihre Perspektive: was, wenn er doch falsch liegt? Es sind keine neuen Themen, trotzdem holt es ab. Vielleicht ist gerade der Perspektivwechsel das Spannende an dem Song: Meistens kennt man es ja nur so, dass der*die gehende Partner*in dämonisiert und verteufelt wird, oft kommt dabei ein fragwürdiges Frauen- und Beziehungsbild zum Vorschein. Zusammenbleiben just for the sake of it kann aber nicht die Lösung sein, auch wenn es vielleicht schmerzt. Gerade die neue Generation verteidigt und symbolisiert diese Einstellung. Der Kalifornier befreit sich auf dem Track davon, es ist ja auch ~alternative~ RnB.
Keepitinside – Caught Up
(Triggerwarnung Depressionen) Keepitinside produzierte und veröffentlichte schon länger seine eigene Musik, doch nach und nach nahm seine Energie dafür immer weiter ab. Der in Amerika lebende Musiker wuchs mit dem Verständnis auf, dass psychische Probleme keine richtige Erkrankung seien und machte sich oft Vorwürfe, unproduktiv oder unkonzentriert zu sein. Als er keinerlei Motivation mehr fand, weitere Kraft in seine Musik zu stecken, beschloss er, einen letzten Song – Caught Up – zu veröffentlichen und seine Erfahrungen dort zu thematisieren. Ein Song für die Momente, in denen man einen Mental Breakdown hat und einfach nur allein gelassen werden möchte. Mit genau diesem Song erreichte er tausende gleichgesinnte TikTok User, die das Gefühl und die Krankheit nachempfinden konnten und sich Dank Keepitinside verstanden und weniger allein fühlten. Ein Auszug aus Caught Up: “Sorry, I was caught up in the moment, I was just depressed and somehow didn’t notice. Maybe it was just another day I couldn’t function. See you when I wake up. I don’t wanna deal with this. How do you do it, how do you care? So many options but no way there. I just wanna feel motivated in my head.” (Yvonne)
Mehr „Die Liste” gibt es hier.
Wir haben euch die Songs hier auch in einer Playlist zusammengefasst.
Die Bildrechte für das Cover-Foto liegen bei Zeitfang.
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