Abor & Tynna, Carlswerk Victoria Köln, 02.10.2025

abor und tynna köln carlswerk victoria

Das letzte Mal war Deutschland wohl zu Lena-Zeiten in solch einem ESC-Hype. Ja, Michael Schulte hat 2018 den 4. Platz geholt und auch Isaak war im letzten Jahr drei Plätze besser. Aber Abor & Tynna sind seit gefühlten Ewigkeiten der erste Act, der beim Eurovision antrat und damit einen bleibenden Eindruck bei der der relevanten Zielgruppe für neue Musik hinterlassen konnte – nämlich bei Menschen unter 25. Nun geht es für das Duo aus Österreich auf ins nächste Level.

Attila und Tünde Bornemisza sind Geschwister und Mitte 20. Also ziemlich genau so alt wie die, die sie gerade richtig abfeiern. Sie haben ungarische wie rumänische Wurzeln, sind jedoch in Wien geboren. Bei dem diesjährigen deutschen Vorentscheid zum größten Musikwettbewerb der Welt galten sie zunächst nicht als Favorit*innen. Als jedoch in Abstimmung mit der Fachjury – insbesondere mit Stefan Raab – von ihrem gerade erschienenen Debütalbum „Bittersüß“ der Track „Baller“ als Eigenkomposition für die Finalrunde ausgewählt wurde, veränderte sich der Wunschkandidat für den ESC in Basel mit einem Fingerschnipp. „Baller“ klang nach Hit, „Baller“ klang nach 2025 und vor allen Dingen komplett anders als alles, was Deutschland zuletzt beim Wettbewerb versuchte. Und ganz nebenbei war der Song auch noch auf Deutsch. Dass Landessprache gut funktioniert, haben andere Länder längst verstanden. Deutschland hing da jedoch noch ordentlich hinterher.

Auch wenn es am Ende nur für einen enttäuschenden 15. Platz und somit fürs Mittelfeld reichte, so entwickelte sich „Baller“ zu einem der wenigen Beiträge, die auch noch Wochen über die Show hinaus auf Rotation liefen. Der Auftritt von Abor & Tynna zählt zu den meistgeklickten des diesjährigen ESC, das Album chartete in mehreren Ländern und holte in Deutschland Platz 10, die Single „Baller“ erreichte gar in Deutschland und Österreich Platz 3, in acht weiteren europäischen Ländern Top-40-Platzierungen und skurrilerweise sogar Platz 1 in Litauen. Wann war unser Heimatland zuletzt dermaßen im Trend?

Somit: Haken hinter dem Ergebnis beim Eurovision und Blick nach vorne. Schon rund um den Vorentscheid im Februar gingen Konzerttickets für die erste große Tour in den Verkauf. Immer wieder meldeten Venues ausverkauft und wurden vergrößert. Aus ursprünglich fünf geplanten Gigs wurden 15. Zwar hält das Duo in NRW nur einmal, dafür gibt es hier aber die größte Location, nämlich das Carlswerk Victoria. Das meldet am 2.10., einem Donnerstag, nicht ausverkauft, ist jedoch dennoch ordentlich voll, sodass hier vielleicht noch maximal 200 Leute Platz gefunden hätten.

Stopp 4 auf dem Ritt durch Europa verspricht also die meisten Menschen, die bisher gleichzeitig nur für Abor & Tynna Tickets gekauft haben. Das Publikum ist wenig überraschend überwiegend ein bunter Mix aus den typischen Studierenden, dazu ein paar feierwütige Queers und vergleichsweise nur vereinzelt klar erkennbare ESC-Fans. Tynna lobt zwischendrin, wie respektvoll und lieb alle miteinander umgehen und tatsächlich gibt es die gesamte Show über so gar keine unangenehmen Auffälligkeiten im Innenraum. So muss das.

Um 20 Uhr startet mit Luca Noel das Programm. Der Stuttgarter liefert gemeinsam mit seinem Gitarristen eine halbe Stunde voller ganz schön kitschiger Klischees. Musikalisch bewegt sich das Ganze zwischen Pop, Soul, Singer/Songwriter und Rap, besonders charakterlich kommt der Mittzwanziger echt gut rüber, bleibt aber in den Lyrics doch extrem in vorhersehbaren Bildern. Ist ganz nett, macht aber für den Hauptact entschieden zu wenig Dampf unter den Schuhen.

Dafür ist das am Ende gleich 100 Minuten andauernde Set ab 21 Uhr von Abor & Tynna ziemlich zufriedenstellend. 24 Songs hätte man auf der ersten Tour der Beiden wohl nicht erwartet. Und auch sonst folgen bei der Bühnenshow immer mal wieder kleine Kniffe, die nicht nur Ohren sondern auch Augen angenehm reizen.

Die Bühne besteht aus Stangengerüsten, die Industrie- und Baustellencharme verbreiten. Im Zentrum steht ein erhöhtes DJ-Pult für Abor, das über allem thront. An ihm dran gibt es einen großen Bildschirm, zwei kleinere sind in den Gerüsten verankert. Für Tynna steht in der Mitte der Bühne vor der Crowd ein Podest. Die Zwei regeln die komplette Show allein – auf Backing-Vocals, Tänzer*innen oder Instrumentalist*innen wird verzichtet. Besonders über Tynnas Gesang konnte man nach dem deutschen Vorentscheid und bei zig Auftritten im Frühjahr viel Negatives lesen, plagte sie eine wahrhaftig ungünstig vorbeischauende Kehlkopfentzündung.

Davon ist in Köln aber nichts zu spüren. Stattdessen überzeugt die sehr stylische und ziemlich sexy wirkende Künstlerin äußerst souverän. Nach dem großen Druck, der rund um den ESC herrschte, scheint sämtliche Aufregung wie abgestreift. Abor & Tynna zeigen in den über anderthalb Stunden, dass sie in diesem Jahr extrem gewachsen sind, locker die Länge eines Konzertes füllen und dabei einen modern klingenden Stil mit eigenen Akzenten vorweisen können.

Das komplette Album – und das sind immerhin 17 Titel – steht auf der To Do. On top gibt es zwei Songs aus vorangegangenen Zeiten, gleich vier komplett neue Tracks und ein Cover. Bei dem Großteil der Lieder wartet zwischendrin oder gen Ende ein kleines Gimmick. Das ist mal ein Video auf Leinwand, mal eine Choreo, mal eine Publikumsinteraktion. Mit zwei Outfits – zunächst ganz in Weiß, dann ganz in Schwarz – wird der echt angenehme Gesamteindruck abgerundet.

Mehrere Monate hatten die Fans Zeit, die Texte zu lernen. Das haben sich besonders in der vorderen Hälfte der Halle viele zu Herzen genommen. Köln kennt die Lyrics und singt lautstark mit. Allerdings filmt Köln auch etwas zu ambitioniert mit. Gerade bei dem Banger „Baller“, der als letzter Song des Hauptsets kommt, sind alle Handys oben und die Stimmung quasi nicht vorhanden. Dann, wenn man am besten steilgehen könnte, macht es kaum jemand. Außerdem hätte „Baller“ seitens des Duos ruhig etwas länger ausfallen dürfen. Neben einem Extended Intro bleibt es bei der üblichen Länge, was ein wenig schade ist.

Dafür gibt es aber sonst ein Konzert, von dem man nicht mehr hätte erwarten können. Tynna klingt gesund und top in Form. Da sie niemanden hat, der sie am Mikro unterstützt, kommen einige Zweitstimmen vom Band. Am Ende der Zeilen während der Strophen ebenfalls, sodass sie Luft holen kann. Trotzdem ist das Live-Erlebnis eindeutig vorhanden, weil sie durchgängig immer mitsingt, mehrfach spontan das Mikro ins Publikum hält und dann auch nur das Instrumental zu hören ist. Das wird von Abor abgeschossen, der als DJ sichtlich aufgeht. Immer wieder kommt er die Stufen zu Tynna runter, um bei eskalierenden Beats in Jumpstyle-Manier kräftig auf den Boden zu stampfen. Beide geben vollste Energie und halten das Programm dennoch ordentlich durch.

Tynna bewegt sich viel, aber nie zu viel. Mal nutzt sie das Stangengerüst für ein paar laszive Moves, dann wird vor der großen Leinwand schattenlichtartig performt. Einmal zeigt sie sogar einen richtig knackigen Dance-Break. Auch im Duett haben die Beiden ein paar kleine Choreos vorbereitet. Da werden rote Leuchtstäbe geschwungen oder bei „Seifenblasen“ – dreimal dürft ihr raten – natürlich Seifenblasen in die Crowd gepustet. Zu „Mama“ hält Tynna eine persönliche Ansprache, in der sie davon erzählt, wie schwer es für Mütter sein muss, dem Kind dabei zuzuschauen, wie es ihm schlecht geht. Im Hintergrund laufen süße Kinderaufnahmen der Beiden.

Bei dem etwas ruhigeren Block mit „Songs gehasst“ und „Parallele Linien“ besucht Tynna auf einer B-Stage das Publikum direkt in der Mitte. Das ist auch der Moment, in dem sie erwähnt, wie toll sie die Rücksichtnahme auf sich selbst, aber auch untereinander findet. Abor hat sein großes Solo, wenn Tynna sich für „Baller“ umzieht. Er holt zu einer „Wer wird Millionär“-Persiflage einen weiblichen Fan auf die Bühne, die drei ironisch-witzige Fragen beantworten darf. Darunter zum Beispiel, wie eigentlich der ESC-Hit der Beiden heißt, der in der Fachpresse gern „Ich balalala“ betitelt wird. Als Gewinn darf sie sich über einen Tynnasaurus (!) Rex freuen, der von beiden unterschrieben wurde. Ansonsten ist das Interagieren mit dem Publikum während der Show zwar nett, aber auch etwas überschaubar.

Musikalisch haben die Österreicher*innen einige Male ein Händchen für Melodien. Besonders die Songs „Rotkäppchen“, „Coco Taxi“, „Guess What I Like“, „Winnetou“ oder auch das etwas ruhigere „Katana“ wissen zu überzeugen und bleiben sofort hängen. Die Beats wechseln zwischen EDM, 80s-Retro, Hardstyle und Hyperpop, sodass die Gen Z genau das bekommt, was sie braucht. „Parallele Linien“ oder „Psst“ haben textlich kreative Umschreibungen für zwischenmenschliche Intimität. Von den neuen Songs fällt „Fiasko“ mit Hook-Charakter am meisten auf, „Tynnamaus“ hingegen ist herrlich-schräg und knallt ordentlich. Zum abschließenden „Moshpit“ greift Tynna gar zur Querflöte. Das beim Vorentscheid noch prägnant inszenierte Cello wird von Abor nur zweimal gespielt, darunter aber natürlich beim ikonischen „Baller“-Intro. Die einzige Covernummer ist übrigens „Bang Bang (My Baby Shot Me Down)“ von Nancy Sinatra, das das Duo auch im finalen Vorentscheid interpretierte.

Da gibt’s nicht viel zu meckern. Wer den mitreißenden Club-Sound des coolsten deutschen ESC-Acts seit Anno Damals mag, kommt in Köln ganz klar auf seine Kosten. Vielleicht wäre es noch eine echt geile Idee gewesen, einen Song auf Ungarisch zu singen oder „Baller“ eben etwas länger genießen zu können. Für eine erste Tour besitzen Abor & Tynna aber außerordentlich viel Selbständigkeit ohne unnötiges Schmücken mit fremden Federn. Wenn nun möglichst zackig gutes neues Material an den Start kommt, darf der Spaß gerne länger andauern und nächsten Herbst in die zweite Runde gehen.

Weitere Termine der Tour:
04.10. Flex, Wien (AT)
05.10. Flex, Wien (AT)
07.10. Muffatwerk, München
08.10. Posthof, Linz (AT)
09.10. Täubchenthal, Leipzig
11.10. Im Wizemann, Stuttgart
12.10. Komplex 457, Zürich (CH)
14.10. Columbia Theater, Berlin

Und so hört sich das an:

Website / Facebook / Instagram / TikTok / Threads

Foto von Christopher Filipecki

* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert