Big Thief, Muffathalle München, 22.04.2023

Es ist der erste warme, sonnige Tag seit Monaten. München hat kollektiv das Haus verlassen, alle strömen nach draußen, in die Parks, in die Eisgeschäfte, an die Isar. Big Thief waren heute schon Fußballspielen und sind in der Isar geschwommen, gemeinsam mit ihrem Support-Act Lutalo. Es wird das rockigste Big Thief Konzert, das ich je erwartet hätte. Irgendwie hat das Schwimmen ihnen Flügel verliehen. Vor mir tanzen erwachsene Männer und Teenager gemeinschaftlich. Irgendwie habe ich mich mit meiner Begleitung nach vorne gequetscht, in die dritte Reihe. Ich möchte etwas sehen und mittendrin sein.

Die Muffathalle ist heute ausverkauft und es ist so heiß und stickig, es fühlt sich an wie Sommer. Bevor man an der Sicherheitskontrolle vorbei und reingehen kann, überquert man einen großen Hof, die Menschen tummeln sich, ich sehe nackte Arme, Röcke, Sonnenbrillen. Es gibt Bänke und Tische und Sonnenschirme und vegane und nicht-vegane Bratwürstchen. Die Stimmung ist gut, es mischen sich Ü40er, die vermutlich mehr von dem Country-esque Aspekt der Band angezogen werden, mit alternativen Teenagern, queeren Menschen, ‚Indie-Kids‘. Für jeden ist Raum.

Bevor es losgeht, kommt James, der Schlagzeuger der Band, kurz auf die Bühne, um noch einen letzten Soundcheck zu machen. Die Location spielt „All I Need“ von Radiohead als Überleitungsmusik, es fühlt sich ironisch an.

Und dann kommen sie endlich. Ich bin beeindruckt, von der Band, von Adrianne Lenker, es ist alles unglaublich. Big Thief nehmen ihre Songs immer in einem Take auf, sie wiederholen diesen Prozess so oft, bis es sich richtig anfühlt – nicht unbedingt, bis es perfekt ist. Sie haben Interesse daran, Schönheit in Chaos und kleinen Fehlern zu finden, ihre Kunst ans Leben zu bringen. Musik ist auch ein Gefühl, akribische Perfektion bringt die Gefahr, sie uninteressant zu machen. Das Schöne an Big Thief ist auch, dass man live dabei ist, wie sie immer und immer besser werden, ihre Stimmen immer stärker, die Energie und Kraft, die sie auf die Bühne bringen, immer eindrucksvoller.

Adrianne Lenker scheint und strahlt, sie trägt ein verwaschenes Hemd und eine zu Shorts abgeschnittene Stoffhose und sagt nicht viel, es ist aber auch nicht notwendig. Ihre Stimme ist so besonders, so stark und zerbrechlich zur gleichen Zeit, wenn sie spricht, muss sie nicht ihre Stimme erheben, damit Menschen ihr zuhören. Sie wirkt überwältigt, hin und wieder blitzt ihr Goldzahn im Scheinwerferlicht.

Die Setlist ist die perfekte Mischung aus Hits und neuen Songs. Auch aus ganz neuen Songs, die zwar noch nirgendwo veröffentlicht wurden, aber schon so den Umlauf gemacht haben, dass Fans witzeln, es seien die „most released unreleased songs“ der Geschichte. „Vampire Empire“ ist zum Beispiel darunter und Highlight des Abends: eine Indie-Ballade, die von vielen als die perfekte Beschreibung einer ersten romantischen Beziehung zwischen zwei Frauen interpretiert wird. Es steckt auf jeden Fall viel Verzweiflung und Widerspruch in dem Song. „I wanted to be your woman, I wanted to be your man, I wanted to be the one that you could understand” ist eine Zeile. Nach dem Song jubelt das Publikum so laut, ausdauernd und ehrlich, dass sich die Sängerin sichtbar Mühe geben musste, nicht zu weinen.

Als ich letztes Jahr Big Thief gesehen habe, war es Juli, und zuhause in Hamburg, in der Fabrik. Ich hatte in den Monaten zuvor wahrscheinlich kein Album so viel gehört wie „Masterpiece“, das Debüt der Band. Mir gefielen auch die neueren Sachen, war aber noch nicht so vertraut mit ihnen. In der Fabrik stand ich zwischen lauter Erwachsenen, das Konzert verlief sehr ruhig. Die Songs, die sie gespielt haben, waren fast nur vom aktuellen Album „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ und einige von Adrianne Lenkers Solo-Songs. Ich war zwischenzeitlich sehr berührt, aber dennoch ein wenig enttäuscht.

Trotzdem: Nach diesem Abend im Juli habe ich nicht aufgehört, Big Thief zu hören und zu lieben. Ich habe mich noch tiefer durch ihre Diskographie gearbeitet und mehr von  Adrianne Lenkers Solo-Werken für mich entdeckt.

Als ich mich auf den Weg zur Muffathalle gemacht habe, war ich sehr aufgeregt. Irgendwo war aber auch die Sorge, dass ich wieder zu falsche Erwartungen haben würde. Rausgegangen bin ich euphorisch. Alle Sorgen waren unbegründet. Es ist so eine besondere Band, und es lohnt sich so sehr, sie live anzusehen und sich darauf einzulassen.

 

Und so hört sich das an:

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Fotorechte: Leonie Förderreuther

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