Wenn der Autor nur wenige Minuten nach dem Beenden des Konzerts seinen Bericht anfängt zu schreiben, hat er womöglich einen Laptop mit dabei – oder einfach den Gig von zuhause aus geguckt. Option 2 bietet sich aktuell öfter denn je, sind Streamingkonzerte dank der weiter andauernden Pandemie auf dem Vormarsch. Die nächste Anwärterin, die die neue Form des Auftretens für sich entdeckt: Dua Lipa.
Mit „Future Nostalgia“ hat die 25-jährige Britin mit kosovoalbanischen Wurzeln den Banger des Jahres hingelegt. Mittlerweile scheinen auch die letzten Kritiker*innen überzeugt zu sein, so darf sich Dua nämlich seit wenigen Tagen über sechs Nominierungen für die Ende Januar stattfindenden Grammys freuen, darunter in den Königsdisziplinen „Record of the Year“, „Song of the Year“, „Album of the Year“, „Best Pop Solo Performance“ und „Best Pop Vocal Album“. Das rochen wir bereits im März, als das Album veröffentlicht wurde, und konnten uns vor Lobeshymnen kaum halten.
Genau acht Monate nach der ursprünglichen LP steht in einigen Ländern ein Re-Release an: „Future Nostalgia“ wird mit der Ende August herausgebrachten Remix-Platte „Club Future Nostalgia“ als 2CD-Set in die Regale gestellt. Neben den Nominierungen somit der zweite Festtag in einer Woche! Können vielleicht die Grammy-Nominierungen und die Wiederveröffentlichung des Albums gleichzeitig gefeiert werden? Sie können – und zwar mit einem Online-Konzert am 27.11., einem Freitagabend. Studio 2054 wurde Ende Oktober angekündigt und nun eröffnet. Der geneigte Popkultur-Fan hat eine Vorahnung, was ihm blühen wird. Das Studio 54 in New York war ab 1977 für gute neun Jahre einer der beliebtesten Clubs der Welt und besitzt auch heute noch Kultstatus, nicht zuletzt durch den ebenfalls bekannten, gleichnamigen Film aus dem Jahr 1998 über DEN Szeneladen schlechthin. Dua Lipa weiß anscheinend, wo die Party geht und holt die über 30 Jahre geschlossene Bude – wie der Name es andeutet – in die Zukunft und gleichzeitig in die Gegenwart. Das „Future Nostalgia“-Konzept scheint noch längst nicht ausgeschöpft und weitere visuelle Komponenten dazuzugewinnen.
Streamingkonzerte stecken noch in den Kinderschuhen. Dass noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgetestet wurden, erkennt man daran, dass sämtliche Künstler*innen in ihren gerade stattfindenden Shows unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Spielt man mit einer Liveband in einem kleinen, klassischen Studio und liefert Akustikversionen? Interagiert man vielleicht sogar live mit den Fans? Geht man das Ganze eher videoclipartig an und setzt auf ausgefeilte Kulissen und Kameraschnitte? Probiert man auf einer Bühne einen Konzertcharakter zu simulieren oder wählt man bewusst eine künstliche, auf Tourneen nicht reproduzierbare Situation? Dua macht von allem Etwas und damit sehr viel richtig.
Das Studio 2054 ist logischerweise in keiner großen Mehrzweckhalle, in der eh keine Zuschauer*innen Platz nehmen dürfen, sondern im Londoner Printworks, einer umgebauten Druckerei. Eine, die groß genug ist, um gleich mehrere Kulissen aufbauen zu können, wie beim finalen Zoom-out auffällt, der die Halle von oben gefilmt zeigt. Typisches Filmset, bei dem eine Kulisse so wirkt, als ob sie den kompletten Raum ausfüllt, es aber eigentlich maximal zu 20% tut. Tricky. In diesen unterschiedlich eingerichteten Teilen läuft Dua zwischen ihren Songs umher und legt somit Stück für Stück die Dimension ihres Streaming-Gigs offen.
70 Minuten lang geht das Event, das 14 Tracks zuzüglich einiger Interludes umfasst und für erschwingliche 15€ den Fans ordentlich was bietet. Zwar kann der Stream nur – ähnlich wie ein Konzert – in dem Moment auf der Plattform LiveNow angeschaut werden, in dem er beginnt, aber dafür gibt es vier Ausstrahlungen zur Auswahl. Beginnend am Freitagabend um 21:30 Uhr nach deutscher Zeit, endend mit der letzten Option, die sich nach dem asiatischen Samstagabend richtet und bei uns zur Frühstückszeit um 10 Uhr morgens startet. Jede*r so, wie es ihr/ihm passt.
Das Wichtigste zum Inhalt: Dua singt live. Klingt offensichtlich, ist es nur leider nicht. Gerade bei vorab gefilmten Kameraaufnahmen ist es gegenwärtig trauriger Standard, dass vieles im Nachhinein entweder komplett feingeschliffen und bearbeitet wird oder der Gesang vorab aufgenommen wurde und beim Performen vom Band läuft. Immer kann man das Prerecording nicht erkennen – sollte es hier so sein, ist es wenigstens gut getarnt. Dua klingt authentisch, kommt mit ihrer Stimme an die Studioversionen nah genug ran und liegt bei einigen kleinen Tönen auch mal minimal daneben, was positiv zu bewerten ist, denn das suggeriert den Livecharakter. Das Negative: auch dieses Event wurde vorab gefilmt und ist – eventuell auch aus Corona-Schutzgründen – nicht erst in dem Moment entstanden, in dem es erstmalig angesehen werden kann. Das ist spätestens dann erkennbar, wenn Dua innerhalb weniger Sekunden das komplette Outfit wechselt. Insgesamt vier sind es an der Zahl, die ihr aber äußerst gut stehen.
Nicht nur durch die teils schicken und teils sehr erotischen Kostüme verbreitet der mittlerweile etablierte Superstar Flair. Zu jedem Song gibt es stimmige und aufwendige Choreografien, die Dua alle fleißig gelernt hat. Das Gesamtpaket macht einfach was her. Sie singt gut, sie sieht toll aus, sie tanzt sexy, aber nie billig und sie hat einfach Megahits am laufenden Band. Die Setlist umfasst acht Tracks des „Future Nostalgia“-Werks – lediglich „Boys Will Be Boys“, „Love Again“ und „Good In Bed“ bleiben aus –, einige davon leicht umarrangiert oder geremixt. Fürs erste ist die mehrköpfige Band zuständig, die sogar in manchen Momenten im Fokus steht und von Nahem gezeigt wird – auf der anderen Seite steht DJane The Blessed Madonna, die sich für das bereits erwähnte Remixalbum verantwortlich zeigt und in einigen Sequenzen zu sehen und ihre Künste zu hören sind. Abgerundet wird das optische Kriterium durch eine ordentliche Anzahl Tänzer*innen und vier Backgroundsänger*innen, die alle sichtlich Spaß haben, und weiteren Titeln, die auf sämtlichen Radiostationen heiß liefen (u.a. „One Kiss“ und „New Rules“). Wie viel Material bis dato zusammengekommen ist, fällt spätestens nach dem Gucken auf, weil einige Singles keinen Platz auf der Setlist finden (z.B. „Be The One“, „IDGAF“, „Hotter Than Hell“).
Verrückterweise stellt sich tatächlich ein Hauch Konzert- bzw. Clubfeeling beim Zuschauen ein. Grund dafür sind die unglaublich mitreißenden Songs, die sich so in die Gehörgänge eingefräst haben, dass Sekunden genügen, um Bock auf das Lied zu bekommen. Gespielt in einer Parallelwelt, in der Corona für Minuten nicht existiert. Ein paar Tracks feiern im Studio 2054 ihr Livedebüt. Absolutes Highlight ist „Cool“, bei dem Dua an einem Mikrofonständer steht und von Rollschuhfahrer*innen umzingelt wird. Klingt richtig top! Fürs Auge präsentieren ins Besondere „Break My Heart“ hervorstechende Sequenzen, in denen die Sängerin mit ihrer Crew durch Leuchtröhren in Neonfarben läuft, und der vor wenigen Wochen erst erschienene „Fever“ mit der Französin Angèle, bei dem sich beide einen lasziven Schlagabtausch in einem leicht kitschigen, farbenfrohen Wohnzimmer liefern.
Apropos Features: für keine fünf Minuten schaut kurz vorm Finale Kylie Minogue vorbei. Ja, richtig gelesen. Die darf sogar einen ihrer eigenen neuen Tracks performen („Real Groove“), bei dem Dua und ihre Tänzer*innen feiernd danebenstehen und sie anfeuern. Anschließend unterschützt der australische Star umgekehrt die Hauptprotagonistin bei „Electricity“. Zusätzlich gibt es eine etwas verwirrende und unnötige Videosequenz von Elton John, der „Rocket Man“ performt, bei dem Dua aber in keinster Form agiert und nicht einmal zu sehen ist. Ok? Da Miley Cyrus ebenfalls am 27.11. ihr neues Album „Plastic Hearts“ auf den Markt gebracht hat und Dua in dem Song „Prisoner“ als Duettpartnerin auftritt, werden Szenen aus dem Video auch nochmal als Interlude für Studio 2054 verwendet. Ich supporte dich, du dafür mich. That’s the game. Völlig selbstverständlich folgt als Sahnehäubchen in der Mitte ein Snippet auf das noch unveröffentlichte Duett mit FKA Twigs, das aktuell unter dem Arbeitstitel „Why Don’t You Love Me“ läuft. Da hat jemand ordentlich Asse im Ärmel. Trotzdem muss ein Manko erwähnt werden: an die Zuschauer*innen wird nicht gedacht. Die werden weder begrüßt noch verabschiedet. Stattdessen dient das Posing nur den Kameras.
Hoffentlich sind Streamingkonzerte nicht auf Dauer unser neuer Standard. Natürlich ist das Gefühl, das beim Zuschauen zuhause aufkommt, nicht zu einem Prozent vergleichbar mit demjenigen, welches man hat, wenn man mit anderen Fans in einer Konzerthalle steht. Jede*r sollte auch vorab überlegen, ob er dieses Medium als Überbrückung überhaupt nutzen mag, bis sie/er ihren/seinen Star wieder live sehen kann, oder es sie/ihn womöglich mit einem depressiven „Wie schön es wäre, wenn…“ zurücklässt und gar nicht befriedigt. Dua Lipa hat jedenfalls bei ihrer Streaming-Feuertaufe ordentlich geliefert und für eine kurzweilige Zeit gesorgt, die im Preis-Leistungs-Verhältnis mehr als klargeht. Das gehört auf die großen Bühnen dieser Welt! Jawohl!
Und so hört sich das an:
Website / Facebook / Instagram / Twitter
Die Rechte fürs Bild liegen bei LIVE NOW.
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.