Miley Cyrus – Plastic Hearts

Review: Miley Cyrus mit ihrem siebten Album "Plastic Hearts".

Selbstfindung ist ein langwieriger Akt. Ein Weg, auf dem viele Steine liegen. Manche lagen da schon vorher, andere werden erst während des Bestreitens von anderen dorthin gelegt. Doch am Ende wartet eine Belohnung. Miley Cyrus scheint das verstanden zu haben. Bleib nicht stehen, geh weiter, zieh durch und mach dein Ding. An einigen Stationen verharrt sie und lässt uns kurz teilhaben. Der Stopp im Jahre 2020 nennt sich Plastic Hearts.

Miley Cyrus zu sein, ist echt eine harte Nummer. Will man wirklich mit ihr tauschen? Wohl kaum. Der Prozess, wie Menschen heranwachsen und ihren Lebensstil verändern, kann bei ihr seit fast 20 Jahren mitverfolgt werden. Im Alter von Zehn erste Schauspielerfahrungen, dann der kometenhafte Aufstieg zum größten Kinderstar der 2000er hinter der Fassade namens Hannah Montana. Im Nachhinein betrachtet eine Verkörperung, die wie aus einem anderen Leben wirkt. Ist sie auch. Seit der letzten gefallenen Klappe 2011, ist aber abrupt finito. Nix mehr „Everybody’s darling“. Musste Miley ihre gesamte Jugend zwar noch eben jene Rolle spielen und sich der aalglatten Scheinwelt hingeben, holt sie mit 19 schließlich alles nach, was sie vorher verpasst hat.

Weitere neun Jahre später hat Miley einiges auf der To do abgehakt – und dabei wie kaum eine andere den Medien, Bossen und Industrien dieser Welt den Mittelfinger gezeigt. Wortwörtlich. Das Buch an Skandalen und Eskapaden ist noch nicht zu Ende geschrieben und nun bereits gute 1000 Seiten lang. Die Tochter des berühmten Country-Sängers Billy Ray Cyrus verlor zwar das Interesse am massenkompatiblen Lifestyle, jedoch nicht das Interesse an der Musik. Die spiegelt perfekt wider, was in Miley vorgeht: ganz viel Emotion, ganz viel Scheiß-Egal-Haltung und ganz viel Herzblut für das, was man wirklich mag. So gelang das Video zur zweiten Single ihres 2013 erschienen „Bangerz“-Album, „Wrecking Ball“, in die Köpfe sämtlicher Zuschauer*innen weltweit und ist dort auch heute noch innerhalb von Millisekunden abrufbar. Welche Musikvideos können das heute noch groß von sich behaupten? Was wurde Miley doch verflucht – welches Meisterwerk Dr. Luke als Produzent des Songs, sie und der kontroverse Fotograf und Regisseur Terry Richardson im Video aber fabrizierten, erlangte erst einige Jahre später die nötige Anerkennung.

Mit „Miley Cyrus & Her Dead Petz“ und dem Country-Ausritt „Younger Now“ gab es erstmalig mehr Für- als Gegensprecher. So langsam war also die Metamorphose geglückt, dass eine Frau in der Mitte ihrer 20er nicht mehr die sein muss, die sie einst in einer Fernsehrolle war. Stattdessen begeistert Miley in regelmäßigen Abständen mit Coverversionen ihrer Lieblingssongs und erlangt für ihre außergewöhnliche Stimmfarbe und ihren Mut zur Andersartigkeit die wohl verdienten Props. Ausdauer hat sie ja, das muss man ihr lassen. Und 2020 scheint der perfekte Zeitpunkt, um alle Register zu ziehen.

Aus Kopfsteinpflaster wird ein roter Teppich: mit „Midnight Sky“ gibt es seit August einen extrem gefeierten Pop-Rock-Song, der zu fruchten scheint und bei dem einfach mal nur die Musik stehen und gemocht werden darf. Einen drauf gesetzt hat das 28-jährige US-Girl mit ihren Interpretationen der Klassiker „Heart of Glass“ (Blondie) und „Zombie“ (The Cranberries). Doch mit mehreren Volltreffern am Stück steigen auch die Erwartungen – erst recht, wenn man als Künstlerin davon spricht, ein Rockalbum (!) zu veröffentlichen. Ist Miley etwa die Rettung des Abendlandes?

Einfache Antwort: nein. Oder vielmehr: leider nein. Was äußerst vielversprechend losging, kann das angesetzte Niveau leider nicht halten – enttäuschen tut’s trotzdem nicht. Mit Plastic Hearts liefert Miley Cyrus ihr hocherwartetes siebtes Studioalbum, bestehend aus 15 abwechslungsreichen Songs, die mal durchschnittlich, mal stark überdurchschnittlich sind, aber entschieden generischer als erhofft.

Mit 50 Minuten Länge trotzt die LP der mittlerweile zum Standard gewordenen guten halben Stunde entgegen und präsentiert auch in der Quantität eine ordentliche Ladung. „Da bekommt man noch was fürs Geld“. Inhaltlich sollte Plastic Hearts besonders die typischen, erwachsenen Pop-Hörer*innen abholen. Eben jene Melodiefetischisten, die während der okayen Strophe auf die auf einen niederprasselnde Hook im Refrain warten. Für jene Hörerschaft können mindestens die Hälfte der Tracks etwas bieten. „WTF Do I Know“ rotzt in schnellen Pop-Punk-Attitüten Richtung Avril Lavigne, als die noch echte Musik machte. Stimmiges Opening! Ähnlich stimmig klingt der stampfende „Gimme What I Want“. Der groovige vorab veröffentlichte Blues-Rocker mit funkigem Basslauf namens „Prisoner“ mit der Künstlerin des Jahres, Dua Lipa, braucht zwar eine gute Hand voll Anläufe, frisst sich dann aber wie ein Parasit in den Gehörgang. „Hate Me“ ist Kelly Clarkson-Belting mit großem Teenie-Drama-Chorus, „Never Be Me“ eine 80s-Hommage mit kleinem The Bangles– oder Bananarama-Flashback, „Angels Like You“ sogar eine waschechte Country-Rockballade. Das ist alles toll und stets kraftvoll im Vortrag – aber zu keiner Sekunde edgy oder fordernd.

Das verpasst dem Ganzen ein wenig einen muffigen Beigeschmack. Nicht falsch verstehen – Plastic Hearts ist ein guter Longplayer. Aber eben einer, der probiert der breiten Masse mit Leichtigkeit zu gefallen und dem es an kreativen Neuerungen etwas fehlt. Ein Großteil ist so vertraut, dass er einfach sofort ins Ohr geht und nicht erst auf Granit stößt. So dudeln ein paar Titel entschieden zu arg herum und knallen einfach so gar nicht („High“, „Golden G String“). Rockalbum? Sorry, aber eben einfach nein. Lädt sich Miley jedoch Genre-Uropa Billy Idol ein, geht das in bessere Richtungen. Zwar fehlt es „Night Crawling“ an einer epischen Hook, dafür machen die Synthesizer-Beats aber Spaß. Die ebenfalls bereits über 60 Jahre alte Joan Jett ist letztendlich anscheinend diejenige, die Miley an ihr ursprüngliches Vorhaben erinnert und sie in „Bad Karma“ zur schwierigsten Nummer bewegt hat. Die fluppt nämlich nicht so einfach durch und hat dank ihrer verruchten Anstößigkeit eine gewisse Coolness.

Wer Stevie Nicks für einen Remix bekommt („Edge of Midnight“), muss was draufhaben. Und Miley hat verdammt viel drauf. Leider hat sie nur ein wenig zu hoch gepokert und sich damit ihren soliden Longplayer Plastic Hearts etwas selbst kaputt gemacht. Sollte man gehofft haben, dass Miley Cyrus den Rock zurück in die Charts holt und das Album des Jahres ballert, macht man besser gar einen großen Bogen um die Platte, denn 80s-Sounds und E-Gitarren sind nicht automatisch Rock. Hat man aber einfach Lust auf nette, heterogene Pop-Songs für den Moment, ist ein Reinhören empfehlenswert.

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