Electric Callboy, Lanxess Arena Köln, 03.03.2023

electric callboy in der lanxess arena köln

Durchhalten lohnt! In vielen Fällen führt Motivation, Engagement, ein Ziel vor Augen sowie ein langer Atem irgendwann dorthin, wo man hinmöchte. Bei Electric Callboy ging diese Strategie vollends auf – nach über zehn Jahren sind die sechs Jungs aus Castrop-Rauxel, einer der kleinsten Städte im Ruhrgebiet, in den vordersten Reihen deutscher Topacts angelangt und machen nun sogar die Lanxess Arena in Köln voll.

Und das trotz einiger arg widriger Umstände. Vorwürfe, man sei zu Anfangszeiten sexistisch und queerfeindlich gewesen, führten dazu, dass Songs von sämtlichen Plattformen entfernt wurden. Sänger Sushi trennte sich nach acht Jahren von der Truppe und macht seitdem sein eigenes Ding. Obendrein benannte man sich um, da der ursprüngliche Bandname Eskimo Callboy an einigen Stellen für Verärgerung sorgte. Nicht zuletzt probierte man beim deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2022 zu landen und wurde trotz riesiger Fanbase vom NDR nicht in die finale Auswahl geschickt.

Doch genau diese irrsinnige Fehlentscheidung des öffentlich rechtlichen Senders brachte Electric Callboy äußerst viel Publicity ein. Petitionen wurden gestartet, dass doch bitte noch eine Möglichkeit gesucht wird, die Band auftreten zu lassen. Hat zwar am Ende nicht geklappt, stattdessen landete Deutschland abermals auf dem letzten Platz beim größten Musikwettbewerb der WeltElectric Callboy dafür ein halbes Jahr später an der Spitze der Albumcharts. Ja, eine Ablehnung zu erfahren, ist nicht immer schlecht. Auf einmal ist das Medienecho noch viel größer, die Gruppe hat sich von ihren Altlasten distanziert, mit Nico als neuem Sänger eine Frischzellenkur durch. All das führt dazu, dass „Tekkno“, das bereits sechste Album des Sextetts, direkt auf die Pole geht. Erstmalig hält sich eine LP länger als einen Monat in den Verkaufslisten, sämtliche großen Festivals – egal, ob aus der Rock- oder aus der Electro-Ecke – haben Bock, die Band spielen zu lassen.

Wiederum einige Monate später in Köln, es ist der 3.3.23, ein Freitagabend, erfährt man auch, warum der Hype um Electric Callboy plötzlich so riesengroß und dazu auch ziemlich angebracht ist. Auch wenn der Mittel- und Oberrang nicht genutzt wird, ist zumindest der Innenraum sowie der gesamte Unterrang ausverkauft, was rund 9000 Besucher*innen entspricht. Übrigens konzentriert man sich auf der 28 Gigs umfassenden Tour, die sich noch bis Anfang Mai zieht, keinesfalls nur auf den deutschen Raum. Italien, Spanien, Portugal, Belgien und die Niederlande hat man schon hinter sich gebracht, es folgen noch Tschechien, Polen, Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Österreich, Ungarn, die Schweiz, Luxemburg, Frankreich und England. Go for it. Ach ja, im Winter war man noch kurz in Australien für ein paar Shows. Castrop-Rauxel, der eigentliche Nabel der Welt?

Um ab 21:15 Uhr das äußerst energiegeladene Konzert erleben zu können, muss man sich vorab übrigens ganz schön zusammenreißen. Je größer das Publikum, desto höher die Wahrscheinlichkeit auch Leute anzuziehen, die das Gesamtbild etwas stören. Mindestens 80 Prozent der Zuschauer*innen sind männlich gelesen. Bei sehr vielen davon ist der Alkoholpegel schon vor dem Betreten der Arena ziemlich weit oben. Viele verkleiden sich ähnlich wie die Band in ihren teils selbstironischen Videos und scheinen sich zwischen Ballermann-Atmo und Junggesellenabschiedsparty nicht richtig entscheiden zu können. Die gute Stimmung kippt somit mehrfach doch ordentlich ins Asige. Genregrenzen sind mittlerweile eben wesentlich transparenter, sodass man nicht zwangsläufig Schlager spielen muss, um „Zicke Zacke“-Rufe von sich zu geben.

Mit Future Palace aus Berlin und Holding Absence aus Wales (!) kann man sich im Vorprogramm gleich zwei Bands ziehen, die sich eher innerhalb eines Stils bewegen als der Hauptact. Doch auch hier wird schon deutlich, dass die Crowd richtig, richtig Bock hat. Mehrfach steigen Leute im Innenraum auf die Schultern ihrer Begleitungen, um sich dann von der Halle kräftig feiern zu lassen – solang sie sich zumindest obenrum freimachen. Zieht man noch die Hose nach unten, gibt es extra Applaus. So dauert es nach dem Einlass zwar bis Electric Callboy auftreten über drei Stunden, aber die scheinen sich viele leicht vertreiben zu können.

Wie eingangs beschrieben: Durchhalten lohnt. Denn genau eine Stunde nach der deutschen Primetime startet auf dem in fünf Teile gesplitteten Screen der Takeoff auf dem „Tekkno Train“. Stehenbleiben wird ausdrücklich verboten, Tanzen und Eskalieren ausdrücklich erwünscht. Spotlicht an, Pyros los, erste Konfettikanone, Vollgas. Innerhalb weniger Minuten zünden Nico als Sänger, Kevin als Shouter und die vier Männer an den Instrumenten – darunter natürlich auch „Bachelorette“-Gewinner und Ex-Dschungelcamper David an den Drums – gleich mehrere Dynamitstangen und lassen 100 Minuten lang nur äußerst wenig Verschnaufpausen. Stattdessen gibt es Scheinwerfer und Lichtanlagen im dreistelligen Bereich, mehrere Flammenwerfer, Feuerwerk, Laser und absolute Reizüberflutung, jedoch äußerst genau getimed ohne jegliche erkennbaren Fehler. Konnte man bei Holding Absence mehrfach Tonaussetzer vernehmen, ist besonders für die oft schwierige Lanxess Arena der Sound von Anfang bis Ende richtig top.

Selbst für diejenigen, die sich im Post-Hardcore und Metalcore nicht ganz zuhause fühlen, ist es wirklich schwer sich dem Spektakel zu entziehen. Es hat einfach so wahnsinnig viel Speed, Energie, Spiellaune und Dynamik. Mit Sicherheit ist die Show ordentliche Effekthascherei und an einigen Stellen auch zwei, drei Konfettibomben-Pyro-Strobo-Momente too much, aber das Gesamtbild ist echt gelungen. Nico ist gesanglich fast immer tonal richtig, hat durch ordentliche Höhen keinen leichten Job und meistert ihn trotzdem. Kevin als Gründungsmitglied hat es geschafft, sich nach einem Jahrzehnt nicht die Stimmbänder kaputt zu brüllen, sondern zieht trotz ausgelassenen Dancemoves und viel Power in den Bewegungen auch mit der Stimme durch. Beide bedanken sich unzählige Male für das schier überwältigende Bild, was vor ihnen erscheint. Sie erzählen, dass es sowieso schon krass ist, das zu verdauen, was seit einem Jahr los ist, aber dieser Moment für immer im Kopf bleiben wird. David an den Drums hat zu „Sandstorm“ von Darude ein dickes Solo, für das er mit lauten Zugabe-Rufen gelobt wird. Da schießen ihm sogar glatt Tränen in die Augen.

Genau das ist am Ende auch das Entscheidende, was aus der guten, aber eben auch sehr durchchoreografierten Megashow eine sehr gute macht: Menschlichkeit und Publikumsnähe geht nicht verloren. Man hält mehrere Ansagen, ist sichtlich ergriffen und lässt den Humor nicht außenvor. So gibt es auf dem neusten Album den Titel „Hurrikan“, der als lupenreiner Schlager – da wären wir wieder – beginnt und dann unerwartet bricht und im Deathcore endet. „Macht mal einen Circle und tanzt für uns Deathcorefox“, fordern die Jungs auf. Electric Callboy sind im Sound nicht unsagbar neu und haben auch jetzt auf „Tekkno“ keine Musikrevolution gestartet, jedoch ist die Kombi aus Hardcore, wirklich guten Gesangshooks, viel Electro und Ironie einfach erfrischend und in der Perfektion in Deutschland auch einzigartig. Besser gut zusammengezockt, als schlecht selbstgemacht.

Mehrere Momente sind fürs Auge und für die Beine echte Highlights. Dass die Ränge beben und wackeln, passiert in der Lanxess nicht alle Tage, dass der gesamte Innenraum synchron hüpft noch seltener. Die Stimmung ist außergewöhnlich krass. Das einzige NRW-Konzert, und somit ein halbes Heimspiel, zieht natürlich auch Familie und viele Freund*innen der Mitglieder an, aber die allein bringen natürlich keine 9000 Leute zum Beben. Das machen wiederum Hits wie „Hypa Hypa“, für den es nach der Show sogar die erste Goldauszeichnung gibt – spätestens hier weinen dann übrigens alle aus der Band -, das Brett „MC Thunder“, der Eurovision-Gewinner der Herzen „Pump it“, die FiNCH-Kollabo „Spaceman“, der Rauswerfer „We got the moves“ und das ein wenig trashige, aber auch irgendwie ganz niedliche Akustik-Medley, zusammengesetzt aus „Let It Go“ aus dem Film „Frozen“, „When you say nothing at all“ von Ronan Keating sowie „I want it that way“, für das sich Kevin an ein rotes Piano in Penisform setzt und Nico mal ganz schnulli sein kann. Nur „Neon“ vom aktuellen Album schafft es leider nicht auf die Setlist. Schade.

Ob man die Musik mag, ist Geschmackssache. Das ist aber ja sowieso immer. Die echt fantastische Show mit 100 Minuten ohne jeglichen Ausfall ist aber auch objektiv betrachtet ein großes Lob wert. Electric Callboy treffen trotz nicht ganz mainstreamigen Sounds den Nerv und sind damit zurecht eine absolute Trendband der Gegenwart.

Und so hört sich das an:

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Foto von Christopher

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