Wenige Sekunden bevor die letzte Zugabe losgeht, brüllt plötzlich jemand in die Anmoderation von Mine “Row Zero” hinein. Die Künstlerin schaut darauf verdutzt, fragt, was damit gemeint ist und sagt, dass sie nun völlig irritiert sei und hofft, dass es nicht das sei, was sie gerade denkt. Kurze Zeit später tauchen drei angetrunkene Personen direkt vor der Bühne auf und schieben diejenigen, die die restlichen 90 Minuten zuvor entspannt standen und gespannt nach vorne schauten, weg. Das Finale zu “Ich weiss es nicht” ist dann trotzdem noch einmal Gänsehaut, da der gesamte Raum singt und somit der störende Augenblick davor eigentlich das einzige Vorkommnis während des Konzerts ist, was nicht wie geplant, strukturiert, zelebriert und erfolgreich absolviert wirkt.
Mit dem Anfang Februar erschienen Longplayer “Baum” hat Mine erstmalig die Top 10 der Albumcharts geknackt. Ein total schönes Kompliment für die jahrelange Arbeit, die sie bis dahin bereits hinter sich gebracht hat. Doch trotz hervorragender Kompositionen reichte es auch dieses Mal nicht für den Einstieg in die Single-Top-100, was dem Zeitgeist geschuldet ist. Vor 20 Jahren wären ihre Titel und insbesondere die Musikvideos auf TV-Sendern in Heavy Rotation gelaufen und jede*r würde sie kennen. Aber das alles passiert, wie leider mittlerweile entschieden zu oft, nur im Konjunktiv.
Stattdessen wächst ihre Fangemeinde dennoch spürbar. Von den 18 Shows, die in exakt drei Wochen durchgehauen werden, sind nahezu alle restlos ausverkauft. Manche gar vor dem Albumrelease. Trotzdem ist bis auf die eine ätzende Ausnahme, die wir anfangs beschrieben haben, die Zeche Carl in Essen, die ebenfalls sold out meldet, von 500 sehr rücksichtsvollen, lieben und aufmerksamen Menschen besucht. Ein junges, diverses Publikum, das mitsingt, wenn es passt, und es sein lässt, wenn es eben nicht passt. Ein wenig Platz wird allen gelassen, sodass man sich passend zur Musik auch bewegen kann. Dass Mine easy auch die dreimal so große Weststadthalle in derselben Stadt vollgemacht hätte, sei positiv erwähnt – andererseits ist es aber für die 500 Ticketinhaber*innen herrlich intim. Sie selbst mag auch den Club sehr gern, wie sie eingangs erwähnt.
Beim Support gibt es einen Rollenswitch: Mine hat vor einigen Jahren den Voract bei Laing gespielt. Kennt ihr alle, die von “Morgens immer müde” und “Zeig deine Muskeln”. Heute tauscht man den Ablauf, denn Nicola Rost, Frontfrau und Songschreiberin der Band, macht dieses Jahr erstmalig solo. Das Album kommt demnächst, doch schon bei Mine werden die ersten Ergebnisse präsentiert sowie eine Cool-Down-Version von “Zeig deine Muskeln”. Ein richtig starkes Opening, bei dem man die halbe Stunde eigentlich fast genauso genießt wie das, was danach folgt. Nicola hat eben viele Jahre Erfahrung auf dem Buckel und spielt und singt gewohnt souverän mit ihrem Drummer und ihrem Keyboarder/Bassisten. Auch wenn man immer mal wieder auf den Einsatz der zweiten und dritten Frauenstimme wie bei Laing wartet, einfach weil man’s schon so lang kennt, darf man auf die LP durchaus gespannt sein.
Ein bisschen früher als gedacht und gerade einmal eine Viertelstunde nach dem Support strömen Bässe und Klickgeräusche aus den Boxen. Das ist das Intro zu “Schattig”, einem der Tracks von “Baum”. Um 20:48 Uhr geht’s also schon los, Ende ist um 22:22 Uhr. Mine hatte bei der letzten großen Tour 2022 erstmalig ein Bühnenbild. Sie hat sich Gedanken über den Aufbau der Show gemacht und nicht einfach random Titel aneinandergereiht. Und schon bei dem atmosphärisch hervorragend ausgesuchten “Schattig” fällt auf – jop, das wird heute wohl wieder genauso. Einige Zeit später kann man sagen, dass es wirklich so ist, nur irgendwie nochmal zwei, drei Stufen besser als bei den “Hinüber” -Gigs. “Es ist schattig, das Leben ist hart, weil der Mensch schwach ist und immer versagt” – mutige, große, schwermütige Worte als Amuse-Gueule mit Beigeschmack im Mund, das serviert wird, wenn Mine noch nicht zu sehen ist.
So eröffnet das 38-jährige Multitalent die “Baum”-Show, die erst zum zweiten Mal aufgeführt wird. Rund 24 Stunden vorher war Premiere in Hamburg. Auf heute könne sie sich aber viel mehr freuen, gestern war sie einfach nur nervös. Beim zweiten Durchlauf sei ihr nach Tanzen und mehr Genuss. Das spürt man in jedem Detail. Die Reihenfolge der Setlist ist fest und nahezu durchgängig logisch, sodass sich viele Teile gar nicht gut gegeneinander austauschen lassen. Die sechs Musizierenden einschließlich Mine machen einen hervorragenden Job, ebenso die Licht- und Soundtechnik. Eigentlich gibt es nichts, was nicht funktioniert und nichts, was nicht unglaublich viel Energie in die Crowd transportiert. Nachteilig ist eher nur die etwas sehr überfüllte Bühne, die für sechs Personen zusätzlich stylischem Baum als Bühnenelement plus Riesen-Banner mit labyrinthartigen Verschachtelungen einfach viel zu klein ist. Mine kann sich zwar bewegen, muss aber doch schon ziemlich genau aufpassen, wo sie hintritt.
Musikalisch sprengt die Künstlerin endgültig auch die letzten Genre-Grenzen. Singer-Songwriter-Pop, Indie, Rock, Trap, Rap, Hyper-Pop, Eurodance, Chormusik – gib mir mehr, denn mehr ist mehr. So bunt sind Konzerte selten bis nie. Bei der 90s-Blümchen-Hommage “Nichts ist umsonst” erwähnt Mine, dass sie davon weiß, wie viele den Song eher kacke finden. Sie liebt ihn aber, also deal with it. Solche Ausflüge in völlig unerwartete Gefilde machen einen großen Reiz aus, denn live mit so hervorragend gepegeltem Sound plus der mal wieder enorm stylisch angezogenen Headlinerin kickt das nochmal anders und macht einfach unglaublichen Spaß.
Die Setlist bietet 23 Titel, davon 13 vom aktuellen Album inklusive diverser Interludes und Reprisen, plus zehnmal Best of aus alten Zeiten. Emotionale Erdrückung bei “Mein Herz”, “Unfall”, “Klebstoff” und “Hinüber”, coole Classics wie “90 Grad” und “Elefant”, ein Blick zu den Anfängen mit “Das Ziel ist im Weg” und on top ein Duett mit Support Nicola Rost mit dem Namen “Was hab ich nur getan”, das hoffentlich auch demnächst offiziell erscheint. Zwei Frauen, bei denen man sich fragt, warum eine Zusammenarbeit nicht schon vorher passiert ist. Nicola springt bei dem sehr starken “Danke Gut” für Mauli ein und singt eine selbstgeschriebene Strophe, die auch melodisch vom Original abweicht. Genauso macht es einer von Mines Drummern – auf dieser Tour gibt’s gar zwei davon – und ihre Bassistin, die bei “Audiot”, “Einfach so” und “Hinüber” aushelfen und den Liveversionen ganz individuelle Eigennoten verpassen. Das von dem Chor ffortissibros eingesungene Intro zu “Danke Gut” übernimmt Mine nun mit ihrer Band in der ursprünglichen Version, bevor der Chor im Studio mit eingeplant wurde. So bekommen auch die, die jeden Track von vorne bis hinten mitsingen können – und das sind im Publikum nicht wenige – Überraschungen, kurze Stör-, dann aber starke Aha-Erlebnisse.
Lyrisch fordert Mine immer wieder heraus. In “Staub” singt sie abermals von dem Verlust ihrer Mutter und ihrer heutigen Sichtweise auf ihre persönliche Verarbeitung damit. In “Weiter Gerannt” – in einer Akustik-Version mit Gitarre – thematisiert sie erstmalig ihre Lebensmüdigkeit, über die sie nicht mal mit ihrer Therapeutin bisher sprach. Auch zwischen den Songs gibt es zwei, drei sehr starke Ansagen, die übrigens nicht geübt sind, wie sie sagt. Einfach, weil geübte Ansagen in ihr nur Stress auslösen. So spricht sie vor “Unfall” von der erdrückenden politischen Lage, ihrem Privileg, endlich genug Geld zu verdienen, aber sehr genau zu wissen, dass das auf unzählige Mitbürger*innen nicht zutrifft und sie diese Vorstellung als Mutter unvorstellbar findet. Sie ruft zum Wählen auf. An anderer Stelle wünscht sie sich mehr Unterstützung für Pop-Artists, damit kleine und mittelgroße Acts nicht mehr ganze Tourneen absagen müssen, nur weil nicht jede Location ausverkauft meldet.
Mine bietet mit ihrer neuen Tour einen richtig intensiven Trip durch starke Gefühlswelten, die mit den passenden Worten eröffnet, durch sechs hervorragende Musiker*innen aufgebaut, mit teils dröhnenden, dann wieder mit den leisesten Tönen verwurzelt und schließlich mit wunderschönen Lichteffekten vollendet werden. Die Alben im Backkatalog sind so viele, dass man damit klarkommen muss, kein “S/W”, “Du kommst nicht vorbei”, “Eiscreme” oder “Tier” zu hören, dafür aber so viel Neues, was das Universum des Deutsch-Indie-Pop-Genies noch größer macht. Fick die Singlecharts, Mine ist absolut Jetzt und gehört zur Spitze der deutschsprachigen Musiklandschaft, egal, wie viele das immer noch nicht wissen.
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Bild von Christopher
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