Ein Ende ist etwas Düsteres, Finsteres, Ungemütliches. Es zieht uns entweder überraschend den Boden unter den Füßen weg oder wir laufen mit vollem Bewusstsein darauf zu. So oder so neigen wir dazu, lieber über hoffnungsvolle Anfänge zu sprechen als über das Ende, so unausweichlich es auch scheinen mag. Ganz anders ist es in der Kunst, die als Projektionsfläche besonders oft von Herzschmerz gezeichnet ist. Wenn Mine nun auf ihrem vierten Solo-Album die imposantesten Streicher zum zentralen Topos “Hinüber” rausfährt, dann sind diese aber hörbar zu groß für schnöden Liebeskummer. Hier geht es um nicht weniger als das Ende der Menschheit.
Ein Kaleidoskop aus Sounds
Schon auf dem Vorgänger “Klebstoff” nahmen die Skizzen der ersten Platten eine konkretere Silhouette an, doch “Hinüber” macht nun ein – ja, das Wort ist hier berechtigt – Meisterwerk aus dem Material. Diese Imposanz ist durchaus beabsichtigt, konnte Mine doch aus rein monetären Gründen erstmals aus dem Vollen schöpfen, wie sie uns im Interview erzählte. Da lädt man eben mal 13 Streicher ein, um das Ende der Welt in einem aufbrausenden Streicher-Finale zu vertonen, ist ja klar.
Dank Mines tief verwurzelter Virtuosität führt die neu gewonnene Aufmerksamkeit aber nicht etwa zu vorhersehbarem Content für die großen Playlists, sondern zu einem pulsierenden Kaleidoskop verschiedenster Stile. So steigern sich die lässigen Bässe von “Bitte Bleib” in die fetten Club-Vibes von “KDMH”, die Wolken hängen aber über beiden sehr tief. Da gönnt man sich gerade mit dem unbeschwerten “Eiscreme” eine Verschnaufspause vom ganzen Drama, schon dreht “Lambadaimlimbo” einen verträumten Latin-Beat (!) hin.
Der Anfang vom Ende
Produktionstechnisch legt Mine mit dieser Platte somit fraglos eine neue Höchstleistung im deutschsprachigen Indie hin. Aber selbst die aufwendigste Kunst bleibt eine leblose Hülle, wenn keine Emotionen in ihr stecken. Doch auch in diesem Punkt kann man Mine wahrlich keinen Vorwurf machen, denn die Endzeit-Stimmung des gigantischen Openers “Hinüber” macht ein Fass ohne Boden auf. “Das Meer ist aus Plastik, der Hunger ist groß”, Instant-Weltschmerz-Gefühle für alle! Wenn inmitten der breiten Streicher-Arrangements dann plötzlich Sophie Hunger mit zitternder Stimme der bedrückenden Atmosphäre eine Krone aufsetzt, schlägt das in jede Lockdown-Magengrube. Besonders effektiv kommt diese Gefühlskeule daher, weil Mine bewusst in einen Dialog mit den Hörer*innen geht, immer wieder die direkte Ansprache wählt und so Abstand von der reinen persönlichen Ebene nimmt. Hier geht es ums große Ganze!
Diese sehr imposante, bildhafte Symbiose aus großen Soundflächen und bedrückenden Texten führt das wellenförmige “Mein Herz” fort, aber auch das verängstigte “Tier” tritt in die Fußstapfen des Openers. Doch keine Angst, fürs Tanzen ist auch gesorgt, beispielsweise beim Banger “Elefant” und dem Dexter & Crack Ignaz-Feature “AUDIOT”, das herrlich über schlechten Musikgeschmack herzieht. Lieben Musikkritiker*innen! Zum großen Finale wird es dann aber doch nochmal richtig gesellschaftskritisch. Inmitten der apokalyptischen Streicher ist er, dieser eine Satz, der mehr Statement-Charakter hat als manche Diskographien: “Die Welt ist ein Unfall”. Dazu scheint die Person Mine langsam von der Bühne zu schreiten, während das Grande Finale zum Zwilling von Phoebe Bridgers’ “I Know The End” mutiert. “Hinüber” ist somit nicht weniger als eins der besten deutschsprachigen Alben der letzten Jahre. So investiert man verdiente Aufmerksamkeit richtig!
Das Album “Hinüber” kannst du hier (Vinyl) oder hier (digital) kaufen. *
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Rechte am Albumcover liegen bei Caroline.
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