Selig, Zeltfestival Ruhr Bochum, 19.08.2022

Zugegeben: So schlecht waren die Strandkorb Open Airs, um in den beiden vergangenen Corona-Sommern doch irgendetwas stattfinden lassen zu können, ja nicht. Stattdessen hat der Kemnader See, der es seit Ewigkeiten gewohnt ist, zu den schönsten Tagen mit ganz viel Kultur beschallt zu werden, auch mit den schicken Sitzplatzmöglichkeiten eine gute Figur gemacht. Wer braucht schon Sylt? Am Ende gibt es aber dennoch nur ein echtes Zeltfestival. Und das ist wieder da. Das gefällt auch Selig.

Es tut einfach gut, wenn man zu dem schönen Ruhrstausee fährt, der sich genau zwischen Hattingen, Witten und Bochum befindet, und schon von Weitem die charakteristischen weißen Spitzen sieht. Das Zeltfestival Ruhr hat einen unverkennbaren Charme und mit seiner Kombination aus Ständen mit trendigen Klamotten und Accessoires, einem Street-Food-Court und zwei großen Zelten mit einem bunten Programm aus Musik und Comedy alles, was es braucht, um zu strahlen. Wurde zwar am 18.8. bereits das Gelände eröffnet, geht es am 19.8.22, einem Freitag, mit Konzerten erst richtig los. Leute kommen in Scharen, die Parkplätze sind voll, für alles muss man sich anstellen – ja, so wollen wir das doch sehen. Lieber ein paar Minuten Wartezeit als eine Eventbranche, die sich nur geradeso über Wasser hält.

17 Tage ist das Treiben an der Kemnade zu besuchen. Zum Comeback wurde sich auch beim gebuchten Line-Up ordentlich Mühe gegeben. Wobei… kleiner Kritikpunkt am Rande: Ein paar mehr Female Artists werden nicht nur bei Rock am Ring gebraucht, sondern auch hier. Wir hören Carolin Kebekus schon schreien…

Wer aber draufsteht, sind die Alt-Rocker – darf man das so sagen? – von Selig. Mitte der 90er gehörten sie zu den großen Hoffnungen in der deutschsprachigen Alternative-Rock-Szene, die ansonsten kaum existierte. Dann verschwanden sie zwölf Jahre von der Bildschirmfläche, um 2009 ein beachtenswertes Comeback hinzulegen. Seitdem gönnen sich Jan Plewka und seine drei Jungs mehr Pausen. Von dem originalen Quintett sind immerhin noch vier übriggeblieben. Keine Selbstverständlichkeit bei 30 Jahren gemeinsame Arbeit. Aber die Chemie bei den Ü50ern ist da.

Genau dieses Gefühl, was man hat, wenn man Selig als Band kennt, liegt auch auf dem Festival in dem kleineren Zelt in der Luft. Das Publikum besteht aus vielen, wie man auf Neudeutsch sagen würden, „Links-Grün-Versifften“, zumindest ist das eindeutig der Eindruck. Fühlt man sich doch direkt wohl. Viele Pärchen, wenige Menschen, die unter 40 sind. Wenige Menschen, die kein alternatives Auftreten aufweisen. Menschen, die weiterhin zu ihren Bands gehen, aber auf das Gedränge längst kein Bock mehr haben. So geht der Einlass äußerst gemütlich vonstatten. Um 20:30 Uhr soll die Band starten, also wird’s auch nicht vor 20:15 Uhr voll. Haben wir doch alles schon oft genug mitgemacht. Damals.

Sogar überpünktlich wird das Licht gedimmt. Zwei Minuten vor halb 9 hört man die leicht rauchige, stets sentimentale Stimme eines Plewkas, der a-cappella „Imagine“ von John Lennon anstimmt und sich das gesamte Lied lang noch nicht zeigt. Die Bühne bleibt leer. Es stehen nur die aussageschweren Worte im Raum, die Hippie sind und noch viel mehr Aktualität. Ein Song, der einfach niemals verlieren wird. Eine Message, die steht, bevor Selig überhaupt beginnen. Mag man als dick aufgetragen empfinden, darf man aber auch genauso genießen.

Anschließend betritt die Band für 90 Minuten die Bühne und spielt eine Show, für die wohl der Begriff „Old School“ erfunden wurde. Banner im Hintergrund. Paar Lichteffekte. Vier Livemusiker, bei denen nichts vom Band kommt. Eine kleine Fläche, auf der sich die Member, insbesondere Jan Plewka, bewegen. Das war’s. Das Auge hat Pause. Musik soll den Rest erledigen.

Selig waren nie die ganz große kommerzielle Gruppe. Sie waren immer ein wenig Underground. Gegründet in Hamburg haben sie das Genre der Hamburger Schule mitgeprägt. Sie sind Indie, ganz klar Rock, manchmal Classic-Rock, ab und an auch Grunge. Und Deutsch. Deutsch, als man noch nicht auf Deutsch gesungen hat. Als Deutsch richtig, richtig uncool war. Umso mehr Mühe brauchte es, um mit Texten auf unserer Muttersprache zu überzeugen. Das schafften Selig bei vielen, auch heute noch. Mit dem achten Studioalbum Myriaden – und damit dem fünften nach dem Comeback – ging es zum wiederholten Male in die Top 10.

Zwar ist der Hype vom erfolgreichsten Output „Und endlich unendlich“, das durch mehr als 100.000 Verkäufe mit Gold veredelt wurde, vergangen, aber die Fans sind treu und der Name der Band auch etwas, was für Klasse im Deutsch-Pop-Rock-Getümmel steht. Kurioserweise kommt von dem Ganzen zumindest in Bochum an dem Abend nicht so viel an. Vieles ist auf der Strecke zwischen Hamburg und dem Pott verloren gegangen. Vielleicht auch durch Corona?

Der merkwürdigste Fakt gleich vorab: Im März 2021 kam das neue Album. Durch die bekannten Zufälle mussten x-mal Shows verschoben oder abgesagt werden. Nun hat man die Chance und entscheidet sich, keinen einzigen (!) Song des Albums zu spielen. Keinen. Einzigen. Den Vorgänger „Kashmir Karma“ (2017) lässt man auch gleich linksliegen. Stattdessen spielt man lediglich fünf Songs aus der zweiten Bandepoche und zehn aus den Jahren 1994 und 1995. Sowieso ist die Setlist mit 15 Songs etwas limitiert und auch um rund drei Titel knapper bemessen als Shows aus den Wochen zuvor. Wieso nutzt man, wenn es die Tour zur neuen Platte ist, nicht die Chance, die Platte – die dazu noch echt gut ist – auch zu präsentieren?

Seltsam. Doch zu den positiven Dingen: Jan wirkt super sympathisch, tanzt wild, auffällig und ausgelassen, strahlt über beide Ohren. Zurecht gemacht hat er sich nicht. Stattdessen gibt es eine Röhrenjeans, ein JohnLennon– – da ist er wieder – und YokoOno-Shirt und weder Schuhe noch Socken. Alle vier wirken wie im Probenraum, sind aber gut eingespielt und abgestimmt. Im Vergleich zum wirklich elendig schlechten Sound. Was ist das denn? Zeltfestival Ruhr, überschaubare Größe und ein Klang, bei dem man den Gesang wirklich gar nicht (!) versteht. Auch die Mikrofone der anderen Member sind sehr leise. Dafür knallen die Instrumente.

Letztendlich ist alles ziemlich mittelprächtig. Selig betonen mehrfach, dass heute 90s angesagt sind. Stimmt irgendwo auch, schließlich spielen zeitgleich im großen Zelt neben an Die Fantastischen Vier. Dennoch ist die Performance ein wenig eintönig. Natürlich können gleich mehrere der Hardcore-Anhängerschaft jeden Titel mitsingen. Da wäre es fast schon egal, was kommt und was nicht. Aber man hält sich eben doch sehr stark an dem etwas angestaubten Sound von damals auf, arrangiert nichts um und wagt gerade einmal bei der rührenden Zugabe „Regenbogenleicht“ auf Akustik herunterzufahren und gefühlvolle Töne anzuschlagen. Ansonsten wird nur gescheppert und nostalgisch zurückgeschaut. Vielfältigkeit ist an dem Abend schlichtweg fremd.

Trotzdem sind „Ist es wichtig“, „Wenn ich wollte“, „Arsch einer Göttin“ oder auch „Die Besten“ immer noch hochkarätige Deutsch-Mucke, keine Frage. Bei „ihrem persönlichen ‚Purple Rain'“, wie Jan es selbst betitelt, „Ohne dich“, hallt ein Chor durch den gesamten Raum. Wer das nicht auswendig kennt, besucht die falsche Veranstaltung. Ein oft gecoverter und selten erreichter Klassiker. Noch intensiver wird es nur bei „Wir werden uns wiedersehen“, das textlich einen Legendenstatus verdient. Mit gleich mehreren drangehängten Refrains ein wunderbarer Gänsehautmoment.

Der Gig geht so schnell, wie er kommt. Irgendwie flutscht alles ein wenig vorbei, weil es eben so mies klingt, dass man sich nur durch die eigene Textsicherheit in wohlige Atmosphäre singen kann. Durchs Zuhören kommen sie kaum auf. Haben Selig eigentlich nicht so Bock auf neue Kost, machen sie sie im Studio mehr aus Pflichtgefühl und wollen lieber selbst ihre richtige Entscheidung von damals, eben diese Form von Musik zu machen, zelebrieren? Bestimmt gibt es einige Personen im Publikum, die exakt das super finden, mögen sie doch eh die alten Platten aus der Jugend viel mehr als die von der heutigen, schnelllebigen Welt. Aber mehr Facetten, die zur Genüge vorhanden wären, und ein wenig Abwechslung sind wünschenswert. Sonst kommt das Ergebnis über das Prädikat „nett“ nicht hinaus. Und ihr kennt alle den Spruch.

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Foto von Christopher.

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