Okay, bevor man mit Dizzee Rascal über einen der prägendsten Künstler des britischen Grime-Genres spricht, gilt es fix ein, zwei Dinge im Umgang mit der brachialen Musikrichtung klar zu stellen. Regel Nummer Eins: Gottverdammt, don’t call it Hip-Hop! Der aus Großbritannien stammende Genre-Mix aus Dancehall, Hip-Hop und Ragga-Elementen zeichnet sich zwar auch durch verspielte Rap-Performances aus, ist aufgrund des deutlich höheren Tempos sowie der elektronischen Einflüsse aus Drum and Bass und Dancehall aber von seinem amerikanischen Geschwisterkind Hip-Hop abzutrennen. Regel Nummer Zwei: Mach deine Hausaufgaben! Ja, aktuell brechen Stormzy, Skepta und Co mit ihren eingängigen Versionen des UK-Grimes Rekorde. Möglich wäre das jedoch nicht ohne die Arbeit legendärer Pioniere, auf die sich aktuelle Genre-Vertreter unweigerlich beziehen.
Godfather Of Grime
So viel auf die Schnelle: Neben seinem Weggefährten Wiley und der restlichen Roll Deep Crew prägte Dizzee Rascal die Musikrichtung Grime wie kaum ein anderer Künstler der britischen Insel. Sein Debüt-Album „Boy in da Corner“ gilt das Genre-Blueprint und wurde 2003 mit dem angesehenen Mercury Music Prize ausgezeichnet. Fünf weitere Erfolgs-Alben und 17 Jahre im Musik-Geschäft später will der zum Ritter geschlagene Musiker es erneut wissen und veröffentlich mit „E3 AF“ sein sechstes Solo-Album.
Back To The Roots
Für die Arbeit an „E3 AF“ ist Dylan Kwabena Mills, wie Dizzee Rascal mit bürgerlichem Namen heißt, laut eigener Aussage zurück in seine Heimatstadt London gereist. Während er seine letzte Platte „Raskit“ noch als Pendler zwischen der englischen Hauptstadt und Miami produzierte, ließ er sich nun (vermutlich auch der aktuellen Situation geschuldet) wieder vollends auf die regnerischen Straßen Londons ein. Ob dieser gesetzte Arbeitsprozess oder gar andere Umwelteinflüsse schließlich dafür sorgten, dass das neuste Werk Rascals deutlich fokussierter klingt als sein Vorgänger, sei dahingestellt. Klar ist nur, dass sich „E3 AF“ nach der Essenz dessen anhört, wofür die Grime-Legende bereits seit Beginn der 00er-Jahre steht: Brachialer Turn-Up-Rap und authentischer Real Talk.
Tatsächlich lassen sich beinahe alle der 10 Songs des rund 30-minütigen Albums in eine dieser zwei Rubriken einordnen. So sorgt beispielsweise der Opener-Song „God Knows“ mit wummernden Dubstep-Einflüssen und treibenden Drums für einen turbulenten Einstieg, der einer Grime-Platte würdig ist. Das sich dabei langsam öffnende Pit schließt sich spätestens auf „That’s Too Much“ zu einem wabernden Moshpit. Die dort anzufindenden Gastparts der britischen MCs Frisco und D Double E erweitern den frühen Sound der Platte dank der kratzigen Stimmen beider Rapper um eine weitere Facette. Ähnlich wie bei „Act Like You Know“ wird der Songtitel hier kurzerhand zum eingängigen Catch-Phrase, was dem Track eine gewisse Eingängigkeit verleiht, ohne ihn dabei weniger kraftvoll und hart erscheinen zu lassen. Einen Höhepunkt erreicht diese brachiale Seite der Platte auf dem Song „Dont Be Dumb“ mit Rap-Maschine Ocean Wisdom. Nach einem kurzen Piano-Intro droppt der Song schlagartig in einen simplen, aber dennoch bedrohlich klingenden Beat, der den beiden Rappern Platz für ihr einziges Vorhaben der darauffolgenden drei Minuten bietet: Spitten, was das Zeug hält. Gefühlt ohne Luft zu holen wechseln sich Dizzee und Ocean auf „Dont Be Dumb“ in kleinen Rap-Parts immer wieder ab und scheinen sich dabei in der Komplexität und Länge ihrer Reimketten förmlich zu duellieren. Das reine Hörerlebnis ist dabei ein Genuss für jeden eingefleischten Rap-Fan mit Vorliebe für schnelle und technisch anspruchsvolle Strophen. Inhaltlich kommen beide jedoch nicht über selbstdarstellerischen Nonsens hinaus („It’s Dylan the villain, sicker than penicillin, no cinnamon in it“). Stumpfsinn im hübschen Gewand: Ich lieb‘s.
Real Talk und Hüftschwung
Für deutlich ernstere und sinnerfülltere Momente sorgt dagegen der reumütige „Energies and Powers“. Von einer großartig atmosphärischen Hook der Londoner Sängerin Alicai Harley in Szene gesetzt erzählt Rascal hier von vergangenen Tagen und Situationen seines Lebens, die er aus heutiger Sicht bereut. Dabei geht es nicht nur um Jugendsünden und die dadurch entstandenen Sorgen seiner Mutter, sondern auch um verlorene Freunden und qualvolle Verluste. Besonders beeindruckt „Energies and Powers“ dann, wenn Dylan Kwabena Mills persönliche Zeilen mit solch einer hohen raptechnischen Finesse verpackt, dass sich hoher emotionaler Wert und Handwerk präzise genau die Waage reichen. Der phonetisch herausragende zweite Part des Songs sei dabei hervorgehoben. Großes Kino!
Nur der aufdringlich und kalkuliert wirkende „Body Loose“ hält „E3 AF“ letztlich davon ab ein in sich vollständig rundes Werk zu sein. Viel zu offensichtlich kommt der Track als Versuch daher, mit belanglosen Zeilen über Partys, Alkohol und schöne Frauenkörper Anschluss an poppigere Gefilde zu erhalten. Die heitere Melodie und der Catch-Phrase „Get Loose, get loose!“ im Zusammenspiel mit dem quirligen Tanzvideo der Vorab-Single passen einfach nicht zum düsteren und angriffslustigen Rest der Platte. Mit Ausnahme von „Body Loose“ zeigt Dizzee Rascal auf „E3 AF“ auch 2020 noch, warum er als eine Legende seines Genres in die popkulturellen Geschichtsbücher eingehen wird. Grime-Liebhaber werden an der Platte Gefallen finden, Genre-Neulinge in ihr vermutlich einen Grund dafür sehen, tiefer in die britische Rap-Szene einzutauchen. Genug zu entdecken gibt es dort allemal.
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Der Autor bezieht sein Wissen wohl über die Lektüre von YouTube Kommentaren.
Ein Paradebeispiel dafür, warum Musikjournalismus so überflüssig ist wie ein Kropf.
Hallo dime,
könntest du vielleicht genauer ausführen, auf welche Punkte meiner Review du anspielst?
Beste Grüße,
Lukas
Ich meine die Abgrenzung von Hip Hop am Anfang und welche Einflüsse angeblich den Grime ausmachen. Gerade Dizzee sagt er hat nie ein Genre vertreten oder eine Szene repräsentiert. Jedes Genre hat unendlich viele Verzweigungen und Einflüsse, dein Text verstärkt eher Schubladen-Denken, wie es unter jedem Grime track in YouTube Kommentaren zu finden ist.
Und wie die Single Body Loose bewertet wird… Willst du wirklich einem Superstar unterstellen, er hätte eine Single gemacht um kommerziellen Anschluss zu finden? Hast du dich Mal von außen betrachtet? Lukas, Autor auf einem Blog von dem ich nie gehört habe und den ich nur gefunden habe weil ich nach Dizzees Album gesucht habe, erklärt der Welt warum dieses Lied so poppig klingt und verurteilt das. In dem Song wird ein Sample des Klassikers Body Groove verwurstet, natürlich musste das ein gute Laune Lied werden. In deinen Worten: Homework nicht gemacht?
Warum kann man ein Album nicht einfach präsentieren, statt seine eigene Meinung in den Vordergrund zu stellen… Oder überhaupt darüber zu urteilen?
Nix für Ungut. Wünsch euch was.
Hallo Dime,
danke für deine ausführliche Antwort.
Die Einordnung der Grime-Szene habe ich vor allem vorgenommen, weil auf unserer Seite noch kein Artist aus dem Spektrum abgebildet wurde. Ich denke, um Dizzees Werdegang und vor allem seinen Status zu verstehen, muss man auch die Szene als eine eigene begreifen. Viele Leute aus Deutschland haben Grime nicht auf dem Schirm. Da wir für ein breites Spektrum an Musikkonsumenten schreiben und uns auf keine Musikrichtungen konzentrieren, sah ich dies als angemessen, verstehe deine Kritik daran aber absolut.
Was meine Kritik an dem Song “Body Loose” angeht: Ich möchte mich hier weder als erfolgreicher Musikkritiker noch als allwissender Kenner aufspielen, schreibe hier jedoch stets über meinen subjektiven Blick auf unterschiedliche Veröffentlichungen. Wenn du den Song anders wahrnimmst, dann ist das doch vollkommen in Ordnung. Letztlich gibt es dazu ja keine objektive Meinung. Ich hoffe dennoch, dass du meine akzeptieren kannst.
Das Format “Rezension” ist nun mal stets mit einer wertenden Einordnung verbunden. Wenn du eine Vorstellung des Albums lesen willst, bist du wohl bei anderen Formaten besser aufgehoben.
Beste Grüße,
Lukas
Yo Lukas
Am Ende ist alles subjektiv. Und du hast Recht, ich lese grundsätzlich gar keine Alben-Rezensionen mehr und bin nur hier gelandet, weil ich eine Möglichkeit suchte, das Album nicht über Amazon kaufen zu müssen.
Dieser Text hat mich einfach direkt daran erinnert, warum ich schnell aufgehört habe Musikzeitschriften zu kaufen. Visions, Metal Hammer usw, fast alle vertreten diesen Stil, nur wenige Autoren waren Ausnahmen.
Dabei hätte ich sogar Lust mir interessante Beschreibungen von Platten durchzulesen, schließlich war das damals vor dem Internet einer der wenigen Anhaltspunkte die man hatte. Ein Rezensent hat Worte, um etwas zu beschreiben, und persönliche Erfahrung wird dabei eine Rolle spielen. Aber wir viel Mühe er/sie dabei in die Worte steckt, spielt mMn eine größere. Und die Möglichkeiten sind dabei schließlich unbegrenzt.
Ich bleibe dabei, dass deine Kritik an Body Loose unangemessen war – und dabei ist es egal, ob du persönlich diese Zeilen verfasst hast, ich fände das vom jedem anderen ‘Journalisten’ genauso anmaßend. Bei der Eingrenzung in Genres war in diesem Fall die Abgrenzung von Hip Hop vllt nicht der beste Weg (weil Hip Hop ja am Ende doch sozusagen das Ober-Genre ist) aber dein Text war insgesamt an der Stelle schon verständlich. Und ich bin nur auf die Punkte eingegangen die mir missfallen haben. Wir es oft so ist, finde ich die begeisterten Passagen viel besser geschrieben.
Anerkennung noch dafür dass du auf meinen ersten unfundierten Kommentar eingegangen bist und weiterhin viel Freude am Schreiben.
Schöne Grüße!
Ist dem Typ nicht bewusst wer Skepta ist? Hier wird geschrieben als ob Stormzy & Skepta auf einer Wellenlänge seien… Skepta IST einer dieser Pioniere von denen du sprichst, der hat die Szene mit groß gemacht da war ein Stormzy noch ein Kind und hatte seine ersten Hits 1-2 Jahre vor Dizzee Rascal.. ist ja fast schon respektlos gegenüber Skepta. 😀
Und wenn man schon die origins von Grime beschreibt kann man doch nicht den direkten Vorgänger, UK Garage, außen vorlassen. Memphis US-Rap war auch eine große influence aber die wird häufig vergessen.
Die Review ist nicht schlecht aber man merkt klar dass der Werte Herr kein wirklicher Grime-Fan ist und somit einige Info-Lücken in der Rezension entstehen. Lässt im Endeffekt die ganze Bewertung schlechter dastehen.