“This is my place, my house, my rules” lautet die klare, unmissverständliche Ansage im Opening zum vierten London Grammar-Album The Greatest Love. Anderen Grenzen setzen, für sich selbst einstehen. Themen, die Menschen mit Mitte 30 eben beschäftigen. Bestimmt ist das für Hannah Reid, Dot Major und Dan Rothman wirklich wichtig, eigene Bedürfnisse auf dem Schirm zu haben und danach zu handeln. Wenn sie jetzt bei dem Übermitteln der neusten Erkenntnisse auch noch an das nötige Feingefühl und an mitreißende Melodien gedacht hätten, wäre das noch cooler gewesen.
Als London Grammar und “Strong” das erste Mal durchs Radio flog – 2013 ist Streaming und damit einhergehende Playlists nämlich gerade erst im Kommen – fühlte sich das an wie eine bis aufs Äußerste aufgeladene Emotion, die einen fest umklammert. Das war so irrsinnig intensiv und heftig, dass es fast schon überforderte. Aber es fühlte sich gut an, einfach weil es sich nach so viel anfühlte. Das schlichtweg perfekte Debütalbum “If You Wait” schaffte sogar, dieses Ereignis auf LP-Länge zu transportieren, was purer Magie glich. Mit “Truth Is A Beautiful Thing” wollte man partout nicht enttäuschen und bewegte sich deswegen in einem überschaubaren Kosmos an Möglichkeiten.
Dass man nicht wieder auf der Stelle tippeln möchte, war lobenswert. Und tatsächlich kriegte es “Californian Soil” hin, zwar ein wenig zu irritieren, weil man mit tanzbaren Nummern wie “How Does It Feel” oder elektronisch-hypnotischen Werken wie “Baby It’s You” doch neue Facetten präsentierte, an die sich Fans erstmal gewöhnen mussten. Aber das Maß war noch so gut dosiert, dass man sich zwischen Altbekanntem und Nicht-zu-extrem-Neuem wohlig betreut fühlte. Doch 2024, drei Jahre und fünf Monate und somit die kürzeste Wartezeit zwischen zwei London Grammar-Alben bisher später, beschäftigt sich die Band aus Nottingham entschieden zu viel mit sich selbst und zu wenig mit dem Publikum. The Greatest Love ist schweren Herzens eine kleine Enttäuschung, auch wenn’s am Ende immer noch für ein “Befriedigend”-Siegel reicht.
Leider hat es eine Band wie eben jene heute nicht mehr so einfach. In dem riesigen Brei an Veröffentlichungen, wovon viele ausschließlich darauf angelegt sind, nach spätestens zehn Sekunden mit der Hook wie schmerzende Hagelkörner auf die Köpfe einzuprasseln, ist introvertierter Indie-Pop nicht wirklich zeitgemäß. Muss er auch nicht sein, natürlich darf und soll es neben allem, was berechenbar ist, Ausreißer geben. Aber The Greatest Love reißt quasi gar nicht raus. Stattdessen laufen die 42 Minuten immer mal warm, aber nie heiß. Es baut sich etwas auf, aber dann fehlt die Entladung. Das vierte London Grammar-Album ist – um es wirklich böse zu formulieren – sehr schön intonierte Langeweile.
Dabei mischt man in den Beats so viel Trip-Hop wie noch nie unter. Der bereits zitierte Opener “House” ist klinisch, hat etwas von Massive Attack und löst mit seinen Ambient-Rhythmen einen kleinen Sog aus. Das ist cool und eine derartige Weiterentwicklung, wie sie gut funktioniert. Aber schon hier fehlt in der Komposition ganz easy eine catchy Melodie. Zwar setzt sich auch der Refrain nach mehrmaligem Hören irgendwie fest, kommt aber eben nicht mit dieser Wucht an Intensität oder Fragilität an, wie man es von London Grammar eigentlich möchte. Genau dieses Problem zieht sich durch nahezu alle zehn Tracks: Das hat immer ein paar gute Spielereien, die man entdecken kann, aber der Kick, um es wiederhören zu wollen, bleibt aus.
Erstmalig verfällt ein Song sogar in völliger Kinder-Mitsing-Trivialität. “Rescue” hat tatsächlich eine “Na na na”-Hook. Why? Wirklich jetzt? Wie furchtbar ist das denn? Bei “Fakest Bitch” – auch merkwürdig, dass plötzlich Kraftausdrücke in Titeln verwendet werden – geht man inhaltlich ein ziemlich gutes Thema ein, geht es nämlich um Menschen, die ihr gespieltes, geiles Leben nicht länger aufrechterhalten können. Statt hier aber mal wütend auf den Tisch zu hauen, bleibt Hannah äußerst unaufgeregt und zurückhaltend.
Sowieso hat die Frontfrau noch nie so wenig anspruchsvoll gesungen wie hier. Kaum ein Ton geht mal höher, von so Haunting-Moments wie “Rooting For You” lässt sich hier nicht einmal etwas erahnen, auch wenn der Titeltrack “The Greatest Love” als letzter Song im Writing erst daran zurückerinnert. Stattdessen wird aber insgesamt lieber erzählt als gesungen. Stimmverzerrer, die roboterartige Sounds fabrizieren, mögen kurz aufhorchen lassen, entwickeln sich dann aber auch in “Ordinary Life” zu einem abgestandenen Wässerchen.
Positive Beispiele sind “You and I”, das durch Kinderchöre aufgebauscht wird und den dramatischen Bogen zu Ende denkt, den man von London Grammar zwingend braucht. Da fließen in dem anschmiegsamen Refrain doch zwei, drei Tränchen, während man im viel zu schnell aufgetauchten Herbst eng umschlungen mit dem Lieblingsmenschen kuschelt. Offensichtlich gibt es über die Erfahrungen, die die Band in Amerika gemacht hat, weiterhin Redebedarf, so wird der sagenumwobenen Stadt “LA” ein ganzer Song gewidmet, der auch überdurchschnittlich ausfällt. Ob man sich wirklich dort wohlfühlt, wo angeblich alles möglich ist? “The Land of Gods”, wie Hannah es betitelt. Nein, hier gibt es nichts für mich, haut rein. Selbstachtung ist ein großes Thema, wie gesagt. Voll gut fürs Seelenheil, hier auch mit genügend angereicherter Tristesse fürs Ohr gleichermaßen. Ebenso positiv verhält es sich mit “Into Gold”, das “Hell To The Liars”-Liebhaber*innen zufriedenstellen wird, wenn über fünf Minuten eine Synthie-Basis permanent prägnanter und dominanter wird und dann zumindest für eine Minute gen Finale das Stroboskoplicht im Kopf anmacht.
In jedem einzelnen Lied steckt London Grammar. Auch in “Kind of Man” oder “Santa Fe”, aber noch nie war die Menge an Beliebigkeit so hoch. Wenn selbst nach fünf Durchläufen sauwenig hängenbleibt, weil es so glatt durchflutscht und eben lediglich gute Nebenbeimusik ist, verwundert das. Und nein, London Grammar darf wirklich auf gar keinen Fall Nebenbeimusik werden. Wenn man diese Band anmacht, müssen sich die Wahrnehmung von mir selbst und die Atmo im Raum verändern. Tun sie aber dieses Mal nicht.
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