Wenn die Leoniden ein Doppel-Album veröffentlichen, dann verdient sich das auch eine Doppel-Review. Jonas fällt vor allem die musikalische Vielschichtigkeit des Albums ins Auge:
Die Leoniden sagten einst in einem Interview, dass sie wohl einfach weiter Platten veröffentlichen würden wie bislang. Diesen Plan hatte die Band ohne die Pandemie gemacht. „Complex Happenings Reduced To A Simple Design“ ist daher ein Album in vier Etappen geworden, das keine Grenzen kennt.
Complex Happenings: Episode 1 und 2
Zuallererst darf das dritte Album der Kieler Band eines: Lang sein. Dass die Fünf es sich erlauben können und wollen Ideen weiter auszubreiten als auf den dicht bestückten Vorgängern, rotzt der Einstieg Zuhörer*innen gleich zu Beginn in die Gehörgänge. Nach einem mit breitem Streicherteppich und frühsommerlichen Piano angeleiteten Intro groovt „Paranoid“ samt Akustik-Gitarre entspannt vor sich hin und greift schlussendlich gar die Motivik des anfänglichen Intros wieder auf. Das Motiv-Geballer der letzten Zinnschauer-Platte hat die Entstehung von „Complex Happenings“ zwar nicht mehr beeinflusst, eine gewisse Ähnlichkeit lässt sich hier aber nicht leugnen. Vergleichbar pompös gestaltet sich das erste Fünftel der Platte insgesamt: „Funeral“ ist tanzfreudiger Grunge-Rock samt orchestralem Prunk, „L.O.V.E.“ Leoniden-Hitmasse in Bombast-Form und „New 68“ Revolutions-Pop mit Hang zum Pathos. Die erste Etappe des Albums – es lässt sich grob vierteilen – ist demnach vor allem eins: Leoniden in groß.
Wirklich typisch Leoniden sind die Songs bis hierhin daher jedoch eher unter der Oberfläche. „Complex Happenings Pt.1“, eines von fünf dicht bestückten Interlude-Spielereien, bricht mit diesem Eindruck und macht mit seinem spacigen Techno-Versatz mies Bock. Nun huldigt „Complex Happenings“ in bester Manier der Vergangenheit: „Home“ und „Where Are You“ sind gerade solch hypnotisch-hibbelige Funk-Popper, die „Again“ perfektioniert hatte. Außerdem gestaltet die Band ersteren als ein lyrisches und musikalisches „Nevermind“-Querverweisfeuerwerk.
Complex Happenings: Episode 3 und 4
Von da an probieren sich Amr, Izadi-Kooshki, Neumann und die Gebrüder Eicke in unterschiedliche Richtungen aus: Von melancholisch („Blue Hour“, „Deny“), über hittig („Dice“) hin zum Garage-Rock-Deepdive („Boring Ideas“). Was der bedrohlich monumentale Side-to-side-part von „Medicine“ bereits andeutet, wird dann wiederum im letzten Albumviertel Realität: Die Leoniden packen ihre Post-Hardcore-Wurzeln aus. Gerahmt von zwei lähmend-krachigen Interludes verbeugt sich „Broken Pieces“ vor den Großhelden des Krumm-Cores und fühlt sich trotz seiner gerade mal 75 Sekunden Spielzeit nur leicht halbgar an. „Disappointing Life“ eint daraufhin Grunge und Soul und lässt die Kieler erneut einen ihrer markanten Stil-Spagate vollführen, bevor „Applause“ die vielen verschiedenen Stilausflüge harmonisch und monumental zu Abschluss bringt.
Auf wenige markante Kernpunkte – okay: der Bass! – lässt sich „Complex Happenings“ nicht herunterbrechen. Dafür überspannt die Band den Bogen zu sehr. Und doch: Die Reise, die man gemeinsam mit der Band unternimmt, unterhält und ergibt in ihrer Etappenkonstruktion durchaus Sinn. Simple Songs, komplexes Konzept!
Leonie empfindet vor allem die behandelten Inhalte als relevant:
Innere Zerrissenheit, Politik, Mentale (Un-)Gesundheit, Zukunftsängste: in Zeiten, in denen Insta-Slideshows versuchen, all diese Themen runterzubrechen, machen die Leoniden ihrem Albumtitel alle Ehre. “Complex Happenings Reduced To A Simple Design” heißt das neue Release der Kieler Band und spiegelt genau diese Themen und Gefühle wider. Alles Dinge, die die jungen Generationen ständig beschäftigen und: die oft verharmlost oder vereinfacht besprochen und weitergegeben werden.
Die Erde brennt. Nicht nur symbolisch auf dem Albumcover, sondern auch in der Realität. Alles steht kurz vor dem Untergang, und gefühlt gibt es nur zwei Wege, damit klarzukommen: entweder man kämpft, oder man findet sich damit ab. Die Leoniden haben sich gegen das Nichtstun entschieden, gegen das “alles muss so bleiben wie es ist”. Das Album hört sich an wie ein Aufstand, ein Protest. Ihre Bässe kämpfen gegen die Taubheit, in die uns diese Umstände oft versinken lassen wollen
Und auch wenn sich keine konkret politischen Statements und Positionierungen in den Texten finden, sprechen das Album und sein Drumherum für sich. Im Rahmen des Tracks “New 68” führten die Kieler drei verschiedene Interviews mit der Politikerin Aminata Touré, Mattea von der Sea Watch Crew und Clara Reemtsma, der Pressesprecherin von Fridays For Future Deutschland. Ziemlich klares Statement, ohne direkt ein Statement zu formulieren, aber das müssen sie ja auch nicht: das ist die Aufgabe von Politiker*innen.
Stattdessen wirft der Longplayer einige Fragen und Komplexitäten auf und nimmt die Hörer*innen mit in diesen Prozess. Was ist unsere Position in dieser Welt, inwieweit tragen wir Verantwortung dafür, dass sie eben nicht untergeht? Und wie ist das, wenn wir uns direkt vor dem Weltuntergang verlieben? Ist das gut, weil man nicht mehr alleine ist, oder macht es die Situation nur noch absurder und trauriger? Wie gehen wir überhaupt damit um, dass sich eben viele Politiker*innen augenscheinlich für andere Dinge interessieren und die Sorgen der jungen Generationen nicht berücksichtigen? Wie finden wir eine Stimme und gehen gleichzeitig nicht unter? Und wer sind wir selbst überhaupt in dieser Situation? Was ist unsere Rolle?
“Applause for the things we lost” singt Jakob im Outro. Auch wenn wir eine Verantwortung tragen und nicht alles einfach tatenlos herunterbrennen lassen können, wir müssen trotzdem das beste aus der Zeit machen, die wir (noch) haben. Einzelne Personen können wenig ausrichten, aber wenn wir uns zusammen tun – egal ob wir dann als “Freaks” gelten oder nicht – und an einem Strang ziehen, können wir Veränderung bewirken und den Zeitpunkt des Weltuntergangs vielleicht wenigstens um ein paar Jahre hinauszögern.
Es ist das bisher beste Album der Band geworden. Egal ob textlich oder soundtechnisch: es wird immer aktuell bleiben. Jede Generation hat ihre großen Fragen – und am Ende sind es doch meistens die gleichen.
Hier (physisch) und hier (digital) kannst du dir das Album kaufen.*
Tickets für die Tour in 2022 gibt es hier.*
Ein ausführliches Interview zu der Platte gibt es hier und noch mehr Leoniden gibt es hier.
Und so hört sich das an:
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Leoniden live 2021:
19.08. – Kiel, Together Kiel (ausverkauft!)
20.08. – Hamburg, Dockville (ausverkauft!)
21.08. – Pütnitz, About You Pangea Festival
Leoniden live 2022:
05.03. – Stuttgart, Wagenhallen (hochverlegt)
06.03. – Salzburg, Rockhouse (AT)
07.03. – München, Muffathalle
09.03. – Wiesbaden, Schlachthof
10.03. – Leipzig, Felsenkeller (hochverlegt)
11.03. – Köln, Palladium (hochverlegt)
12.03. – Berlin, Columbiahalle
17.03. – Hamburg, Edel Optics Arena (hochverlegt)
18.03. – Bremen, Pier2
19.03. – Osnabrück, Hyde Park
15.04. – Bern, Dachstock (CH)
16.04. – Winterthur, Salzhaus (CH)
19.04. – Wien, Arena (AT)
Die Rechte für das Cover liegen bei Irsinn Records.
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