Ein Jukebox-Musical mit Songs von Max Martin. Die einen steigen bereits bei der Bezeichnung “Jukebox-Musical” aus, die anderen dann bei dem Typen. Kennt man den, hat der Hits? Ob man ihn kennt – vielleicht. Ob er Hits hat – quasi alle. Nein, es ist eigentlich noch fast untertrieben, wenn man Max Martin den wohl erfolgreichsten Musiker der letzten 30 Jahre nennt, denn der 53-jährige Stockholmer ist für alles zuständig, was seit Ende der 90er die weltweiten Charts dominiert. Der wahre Pop-Titan sozusagen. Allerdings als Songwriter oder Produzent bzw. beides. Gesungen haben andere für ihn. Gesammelt haben sich all diese Banger in dem neuen Stage-Musical & Julia, das ab sofort im Hamburger Operettenhaus läuft.
Kurzer Recap: Hamburg und seine Musicals. Ein Paradies. Jedoch eben auch immer eine Gratwanderung zwischen Nummer sicher und Risikobereitschaft. Dass so etwas wie “Die Eiskönigin” super läuft, überrascht bei dem Hype um den Film wenig. Dass gleichzeitig “Hamilton” trotz enorm hohen künstlerischen Anspruch nicht gut angenommen wird, überrascht leider genauso wenig, sind Geschichte und Musik fürs deutsche Publikum eben einfach nicht gemacht. Trotzdem sind wir immer noch äußerst dankbar für dieses starke, bahnbrechende, untypische Stück, dass es dann doch noch zu uns schaffte – wenn auch nur für kurze Zeit. Um die kleine kommerzielle Enttäuschung auszubügeln, gab es zuletzt im Operettenhaus, wo “Hamilton” gastierte, den niemals tot zu kriegenden Dauerbrenner “Tanz der Vampire”, bei dem zumindest neugierige Musical-Fans vor Gähnen hinten überfallen. Doch mit der neusten Premiere könnte man womöglich die goldene Mitte gefunden haben.
2019 findet in Manchester die Uraufführung von & Julia statt. Ok, stopp! Erste Frage: Fehlt da nicht ein anderer Name? Was ist denn mit Romeo? Und wie bitte? Uraufführung? Das will doch schon seit Jahrzehnten keiner mehr sehen! Aber wir sind weder schlampig im Abschreiben noch völlige Kulturbanausen, denn & Julia braucht keinen Loverboy, betritt Solopfade und ist somit wirklich frisch, neu und anders. Das Jukebox-Musical – also ein Musical, das bereits schon vorher existierende und etablierte Musik eine*r Interpret*in, Band, Komponist*in oder eines Genres verwendet – schnappt sich alles, was die Pop-Schmiede von Max Martin zu bieten hat und bettet es in eine moderne, fiktive Fortsetzung zum Shakespeare-Classic.
Licht ins Dunkel bringen wir jetzt: Es ist der Abend der Weltpremiere von William Shakespeares “Romeo & Julia”. Der Dichter ist mehr als nur von seinem Plot überzeugt und weiß, dass sein Drama ein riesiger Erfolg wird. Seine Frau Anne Hathaway sieht das Ganze ein bisschen anders. Ein junges Mädel, das sich umbringt, nur weil ihre erste Liebe sich impulsiv selbst getötet hat? Natürlich ist das ein tragischer Verlust, aber eigentlich sollte man doch trotzdem das Leben noch weiterhin genießen. Somit spinnt Anne das Leben von Julia ohne Romeo weiter, und zwar mit feministischen Gedankenansätzen aus der Gegenwart. Julia schnappt sich ihre engsten Freund*innen, lässt Verona vorerst hinter sich und macht in Paris mal richtig einen drauf. Shakespeare gefällt diese Variante seines Werkes so gar nicht, sodass Anne und er immer wieder den Plot unterbrechen und in ihren Meinungen aneinandergeraten – und merken, dass die Story auch mit ihrer eigenen Beziehung etwas anstellt.
Die Medienpremiere, die gleichzeitig die letzte Preview-Show von & Julia darstellt und einen Abend vor der großen Deutschlandpremiere stattfindet, ist äußerst gut besucht. Das über 1300 Plätze umfassende Operettenhaus ist bis auf wenige ausgebucht. Trotzdem sich viele Medienleute versammeln, die also aus beruflichen Zwecken hier auftauchen, ist die Stimmung richtig gut, was auch an der Preshow liegt. Pausenlos läuft im Saal catchy Musik, die schon viele Hooks der im Stück vorkommenden Titel instrumental miteinander verbindet. Gejubelt wird während der rund zweimal 65 Minuten andauernden Vorstellung mehrfach, hin und wieder springen einige Gäste sogar auf, weil man sich gedanklich schnell auf einer guten Retro-Clubnacht befindet, in der man auch zum 200. Mal zu den 90s- und 00s-Hits eskaliert.
& Julia hat viele Stärken. Es ist nach Ewigkeiten endlich mal wieder ein lupenreines Feel-Good-Musical, das man mit wesentlich besserer Laune verlässt, als man es betritt. Musik, die nostalgisch andockt und glücklich macht. Doch auch auf technischer Ebene, ebenso in der Besetzung und nicht zuletzt in dem gelungenen Libretto gibt es ganz wenige Kritikpunkte.
Humor in Musicals ist verdammt schwierig. Sowieso ist Humor ja bekanntlich arg individuell, aber nicht selten findet man in den meisten Stücken Schenkelklopfer-Gags, die den Fremdschäm-Nerv treffen und einfach überhaupt nicht lustig sind. Endlich schafft es ein neues Bühnenwerk genau diesen Fluch zu brechen: & Julia ist richtig witzig. Klar, nicht alle Wortspiele treffen ins Schwarze, aber dass das Tempo in den One-Linern dermaßen hoch ist, ist eine gute Entscheidung, sodass man eben konzentrierter zuhören und sich in der aktuellen Popkultur auch ein wenig auskennen muss, um alles zu checken. & Julia verkauft sein Publikum nicht für doof, sondern dankenswerterweise für schlau. Es wird gar nicht erst probiert, alles zu stark herunterzuraffen, damit selbst der letzte Gehirn-Ausschalt-Dulli mitkommt, sondern auf eine smarte Crowd gesetzt, die von zu viel seichtem Fahrwasser genug hat.
Deswegen ist & Julia genau das richtige Stück für Meme-Enthusiast*innen und das frischere, upgedatete “Rock of Ages“. Nicht sexistisch, sondern feministisch. Nicht queerfeindlich, sondern queer-friendly. Nicht co-abhängig, sondern selbstbestimmt. Julia lernt in den guten zwei Stunden, dass man zwar ohne die Männerwelt auch nicht gut kann, aber sie ein Upgrade darstellen, keine Obligation. Auch allein kann man glücklich sein und sollte in erster Linie den Weg zu sich selbst finden. Man darf Meinungen ändern und ist niemandem verpflichtet. Messages, die Millennials schon lange, aber auch immer noch beschäftigen. & Julia richtet sich glasklar an ein Publikum zwischen Mitte 20 und Mitte 40. Die darunter werden mit den Hits nicht viel anfangen können, die darüber wahrscheinlich nicht mit den Thematiken. Und das ist völlig fein, besser noch: genau richtig, weil klar definiert.
Der nicht sehr dicke, aber ausreichende Plot wird mit einer Flut an Songs erzählt, die in die Pop-Geschichte eingegangen sind. Welthits von den Backstreet Boys (u.a. “Everybody” und “I Want It That Way”), Britney Spears (u.a. “Baby One More Time” und “Oops! I Did It Again”), Katy Perry (u.a. “I Kissed A Girl” und “Roar”), *NSYNC (“It’s Gonna Be Me”), Bon Jovi (“It’s My Life”), Jessie J (“Domino”), Kelly Clarkson (“Since U Been Gone”), Adam Lambert (“Whataya Want From Me”), Pink (“Fuckin’ Perfect”), Céline Dion (“That’s The Way It Is”), Justin Timberlake (“Can’t Stop The Feeling”), Ariane Grande (“Break Free”, “Problem”), Ellie Goulding (“Love Me Like You Do”). Zusätzlich gibt es drei oder vier Titel, die hierzulande nicht allzu bekannt sind – zum Beispiel “Confident” von Demi Lovato -, inklusive einer Komposition nur fürs Musical (“One More Try”). Der Rest sind aber Songs, zu denen die Zielgruppe enorm tiefe Verbindungen aufgebaut hat und diese seit Dekaden anhalten. Songs, die alle auswendig können und bei denen es eben nicht überrascht, dass manche während der Vorstellung aufspringen. Keine einfache Aufgabe für die Cast, dem Ganzen gerecht zu werden. Doch die stellen sich der Erwartungshaltung sicher und mit Überzeugung.
Chiara Fuhrmann ist 29 Jahre jung und darf nun erstmalig die Hauptrolle in einer Premiere übernehmen. Ihre Julia ist so cool und eigenwillig, dass sie ohne erkennbare Anstrengung unter den vielen talentierten Personen auf der Bühne immer die Leaderin bleibt. Gesanglich und tänzerisch ist das wirklich fantastisch und mit purer Energie. Sowieso ist & Julia in den Choreografien der Musik entsprechend ganz schön powervoll. Dem wieder modernen Voguing wird hier genauso Tribut gezollt wie old schooligen Schritten à la Britney. Stark. Highlight in dieser Hinsicht: “Problem”. Ein gefühlvolles und charakterstarkes Battle liefern sich Andreas Bongard als Shakespeare, der trotz eingerostetem Frauenbild sympathisch wirkt, und seine Ehefrau Anne, die ihm ordentlich den Kopf wäscht. Willemijn Verkaik, seit rund zwei Jahrzehnten einer der größten Stars der Musicalszene, kann jetzt in Hamburg endlich mal ihre etwas alberne, durchgeknallte und schlagfertige Seite präsentieren und macht auch diesen Job mal wieder super gut. Dass sie bei ihrem Solo “That’s The Way It Is” von Céline Dion den größten Beifall bekommt und Standing Ovations genießen darf, überrascht wohl niemanden mehr, sollte aber natürlich Erwähnung finden.
Wer noch nicht so viel über das Libretto weiß, sollte jetzt nicht recherchieren, wen denn Raphael Groß spielt. Nur so viel: Es wird herrlich schräg und selbstironisch. Der Recklinghäuser darf nach seinem fantastischen Spiel in “3 Musketiere” in Tecklenburg und der Deutschlandpremiere von “Footloose” erneut beweisen, dass er zur besten Nachwuchsriege zählt. Große Identifikationsfläche für die queere Community bietet der Charakter May, feinfühlig präsentiert von Bram Tahamata, bei dem man nicht das Gefühl hat, dass es sich um stumpfes Rainbow-Washing handelt, sondern die Figur wirkliche Relevanz für die Story hat. Außerdem sei noch Jacqueline Braun als Amme aufgezählt, die mit starker Soulstimme und Curvyness auch hinsichtlich Body Positivity für authentische Sichtbarkeit ein Zeichen setzt.
Wären Kompositionen und Cast schon Grund genug, dem Operettenhaus einen Besuch abzustatten, so runden Bühnenbild und Sound das Gesamtbild auch auf technischer Seite ab. Die siebenköpfige Band unter der Leitung von Philipp Gras spielt den Bubble-Gum- und Breitband-Pop schon jetzt routiniert, auch an den Mischpulten wird nicht gepatzt, sodass alles im Saal herrlich voll und austariert klingt. Das aufwändige Bühnenbild wechselt in Sekundenschnelle unzählige Male die Kulisse. Von Discoatmo über Junggesellenabschied in Boygroup-Manier bis hin zu fliegenden Kronleuchtern und Pop-Konzertartigen Hebebühnen ist hier alles dabei, was man für einen märchenhaften – denn & Julia hat doch sehr viel von einem Märchen nach einer Frischzellenkur – Musicalabend benötigt, um Ohr und Auge zufriedenzustellen. Bei dem ersten Finalsong “Roar” fühlt man sich so empowert, dass es völlig egal ist, ob man gerade in einer Beziehung ist oder als Single in die Hamburgernacht hinausgeht, denn wenn man jemanden liebt, dann doch hoffentlich zuallererst sich selbst. Period.
Kein starker Kritikpunkt, aber zumindest ein wichtiges “Good To Know”, ist die Sprache. War & Julia zunächst so angekündigt, dass die Dialoge auf Deutsch sind und die Songs auf Englisch bleiben, trifft das bei der finalen Inszenierung nicht ganz zu. Je nach Song gibt es nämlich manchmal mehr, manchmal weniger deutsche Anteile. Besonders wenn ein Charakter mit einem Song auf eine vorab gestellte Frage antwortet, ist die Antwort zunächst erstmal auf Deutsch. Anschließend geht der Song mal nach wenigen Zeilen, oft aber nach der ersten Strophe dann in die englischen Originallyrics über. Manche Songs hingegen – zum Beispiel “Since U Been Gone” von Kelly Clarkson – bleiben sogar komplett auf Englisch, sodass vorausgesetzt wird, dass entweder die Besucher*innen die Sprache gut genug können oder die Texte sowieso schon kennen. Bei der Zielgruppe ist die Entscheidung aber völlig in Ordnung und selten störend, wenn auch manchmal etwas willkürlich.
Nach einer ganz schön underwhelming Weltpremiere von “Hercules” gibt es nun mit dem in London und New York bereits etablierten & Julia den nächsten großen Stage-Hit in der Hansestadt. Ein Musical, das einen zum Lachen und Tanzen bringt, eine Attitüde Level 2024 an den Tag legt, so richtig viel Spaß macht und der Gen Y das bietet, was sie bewegt. Super Package. Kleiner Sitzplatztipp: Wer alles in der Totalen sehen möchte, sollte ungefähr in Reihe 20 in der Mitte Platz nehmen. Doch egal, wo man sitzt, am Ende wird gestanden und sich zu “Can’t Stop The Feeling” einfach nur gut gefühlt. Gönnung, die wirkt.
Und so sieht das aus:
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Foto von Christopher
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