Das Jahr der großen Neuentdeckungen waren die letzten zwölf Monate nicht. Zwar erschienen vor allem im ersten Quartal eine Handvoll Debüts von einigen wenigen in den vorigen Jahren gefundenen Musikschätzen, wirklich neue, spannende Bands wollten jedoch nicht aus dem Nichts auftauchen – zumindest in meinem Musikkosmos. Dafür veröffentlichten gleich mehrere spannende, erfahrenere Bands und Künstler in diesem Jahr Nachfolgewerke, die es nicht selten schafften die Vorgänger bei weitem zu übertrumpfen.
Neben lobenswerten Werken, will ich nun aber erst einmal auf ein paar Enttäuschungen des Musikjahres 2017 eingehen. Einige Bands konnten leider aber nicht an ihre überstarken Debüts anknüpfen, weshalb Royal Blood beispielsweise komplett an der Top-10 vorbeirutschten. „How Did We Get So Dark?“ ist nicht schlecht geworden, die Magie und der „Wow-Effekt“ des Debüts sind leider trotzdem verloren gegangen. Auch Zugezogen Maskulins „Alle Gegen Alle“ verlor sich vor allem auf musikalischer Ebene in Belanglosigkeit. Ebenso erwies sich Brand New Frontman Jesse Lacey gegen Ende des Jahres als vollkommener Griff ins Klo – gleich mehrere Frauen beschuldigten den 39-Jährigen Anfang der 2000er Nacktfotos von ihnen eingefordert zu haben und vor ihnen per Videostream masturbiert zu haben, obwohl sie teilweise noch minderjährig gewesen seien. Obwohl „Science Fiction“ wohl ein hoher Anwärter auf das Album des Jahres geworden wäre, fällt das fünfte Brand New Album somit für mich komplett aus der Wertung. Nun aber zu den positiven Momenten und Werken des Jahres!
10. Lorde – Melodrama
Ein Pop-Album, das nur so von Ehrlichkeit und Direktheit sprüht und in sich ein konzeptuelles Gesamtwerk bildet? Die blutjunge Neuseeländerin Lorde erschafft mit „Melodrama“ ein ebensolches Werk und ist damit durchaus erfolgreich. Düstere elektronische Sounds treffen hier auf Pop-Appeal und die einzigartige Stimme der 21-Jährigen, die sich inhaltlich mit in den frühen Zwanzigern aufkommenden Problemen beschäftigt. Vor dem Vorgängerwerk hat „Melodrama“ gerade wegen seiner Einheitlichkeit klar die Nase vorne. Pop kann also auch kunstvoll!
Eine Rezension zum Album gibt es hier.
9. Portugal. The Man – Woodstock
„Woodstock“ ist das wohl bisher popigste Album der Band aus Alaska, die eigentlich dafür bekannt ist, Veröffentlichungen im Jahrestakt rauszuhauen, sich diesmal aber verhältnismäßig viel Zeit, nämlich 4 Jahre, gelassen hat. Das Ergebnis dieses Prozesses, in dem wohl auch sehr viel Späne gefallen sind, ist verkopfter als die vorigen Alben, bietet mit „Feel It Still“ einen Überhit, der weltweit von Radiostationen hoch- und runtergedudelt wird und beherbergt auch ansonsten clevere Indie-Pop-Songs, die sich mit unserer Gesellschaft und Welt auseinandersetzen. Das ist kurzweilig, verdammt tanzbar und macht einfach nur Spaß. Wenn eine Band derartigen Erfolg verdient hat, dann das Sextett aus dem Norden des amerikanischen Kontinents. Bei ihren Live-Shows darf man dann aber gerne weiterhin zeigen, wie deutlich sich seine handgemachte Musik vom restlichen Pop-Einheitsbrei unterscheidet – hier wird komplett alles live umgesetzt.
Eine Rezension zum Album gibt es hier.
8. Ahzumjot – Luft & Liebe
Der dritte und letzte Teil der 16QT-Reihe des Wahlberliners Ahzumjot stellt das wohl ästhetischste und in sich stimmigste Stück Musik aus der New-School-Rap-Szene im Jahr 2017 dar. Ahzumjot produziert alle seine Beats selber, bietet seine Tapes zum kostenlosen Download im Netz an und präsentiert vor allem sphärische Musik, über die er mit kleiner Hilfe von Autotune rappt. Neben hochkarätigen Feature-Gästen, wie Casper und Chima Ede, glänzt der Rapper vor allem auch durch sein geniales Melodiegespür. Bei Ahzumjot entsteht einfach ein absolut stimmiges Gesamtbild.
7. Sorority Noise – You’re Not As ___ As You Think
Was machst du, wenn sich einige deiner besten Freunde umbringen? Na klar, ein Album darüber schreiben und all deine Trauer in musikalische Form gießen. Die Songs auf dem dritten Album der Band von Cameron Boucher beschäftigen sich neben dem Lieblings-Emo-Thema Depressionen, vor allem mit diesen tragischen Verlusten, die der Sänger in den letzten Jahren auf sich nehmen musste. „You’re Not As ___ As You Think“ bringt dich zum weinen, raubt dir den Atem, sorgt dafür, dass du dich verstanden fühlst. Hach, Emo kann so schön sein!
Eine Rezension zum Album gibt es hier.
6. Van Holzen – Anomalie
Knallige, straighte Gitarrenriffs aus Deutschland? Vor einigen Jahren wäre das noch undenkbar und vor allem Terrain gewesen, in dem sich UK-Bands, wie Biffy Clyro oder Arcane Roots bewegt hätten. Van Holzen lassen sich von diesen Bands inspirieren und transponieren deren Stil ins Deutsche ohne dabei als lose Kopie zu wirken. Das funktioniert erstaunlich gut. Ihr Debütalbum „Anomalie“ fällt dabei deutlich vielseitiger als die erste selbstbetitelte EP aus, was die Band zwischenzeitlich kurz ihre Stärken vergessen lässt. Im Albumkontext fällt das aber kaum auf – auch Dank Philipp Kochs starker Produktion. Für das junge Alter der Bandmitglieder in jedem Fall ein beachtliches Stück Kunst.
Eine Rezension zum Album gibt es hier.
5. Leoniden – Leoniden
Schlecht sitzende Hosen, sonderbare Dance-Moves – manchmal scheint es so als seien Leoniden aus der frühen Indie-Szene des 2000en Jahrhunderts entsprungen. Dass es die Band noch nicht wirklich lange gibt, Sänger Jacob Amr bis vor kurzem noch in der Crossover-Polit-Band Trouble Orchestra gesungen hat, merkt man dem Quintett überhaupt nicht an. Ihr selbstbetiteltes Debüt zeigt genau auf, wo die Gruppe hin will und ist ein selbstbewusstes Statement, dass vor Pop nicht zurückschreckt und überhaupt nicht wie ein Debüt wirkt. Kein Wunder, dass Leoniden vor allem durch Spotify sehr stark gefördert werden. Gelingt es der Band dieses konsequente Songwriting auf einer Linie im Nachfolgewerk weiterzuziehen, gehören die fünf Jungs aus Kiel (und Hamburg) sicherlich bald zu den ganz Großen des Indie.
Eine Rezension zum Album gibt es hier.
4. Bilderbuch – Magic Life
Wer derart zielsicher den Zeitgeist trifft, wie es Bilderbuch aus Österreich in diesem Jahr mit ihrem vierten Album „Magic Life“ taten, der hat einen Platz in der Top-5 absolut verdient. Die Band um Paradiesvogel und Sänger Maurice Ernst tänzelt in den knappen 40 Minuten, die das Album andauert, leichtfüßig zwischen Stress, Konsum, Party und Ekstase umher, verzichtet fast gänzlich auf Hits und fährt teils skizzenartig wirkende Synthie-Ungetüme auf. Einzig das feuchtfröhliche „Bungalow“ entpuppt sich als riesiger Radio-Kracher. Neben Lorde der zweite Beweis, dass (Indie-) Pop auch kunstvoll und durchaus gesellschaftskritisch und ernst sein kann.
Eine Rezension zum Album gibt es hier.
3. Fjørt – Couleur
Sie wollten sich im Studio eine Scheibe von dem Sound, den Van Holzen im Frühjahr zusammen mit Philipp Koch auf ihrem Debüt gezimmert hatten, abschneiden, hieß es in unserem Interview mit der Aachener Post-Hardcore Band zu ihrem dritten Album „Couleur“. Genau deshalb hat man sich auch Koch geschnappt, einige rifflastigere Songs geschrieben und ansonsten einfach die so simple Fjørt-Formel angewendet. Man nehme oft kryptische, aber doch direkte Texte, viel Emotion in den Stimmapparaten der beiden Texter, einen Sound zwischen Aggression und wunderschönen Soundlandschaften und ein dazu passendes Artwork. „Couleur“ ist das dritte Werk in Folge, das im Hardcore-Bereich an Qualität kaum zu überbieten ist und sich auf etlichen Bestenlisten Ende dieses Jahres befand. Vor allem im Hinblick auf die Releasedichte, die bei der Band mittlerweile fast schon zum Standard geworden ist, scheint dieses hohe Niveau schier unmöglich. Bei Fjørt wirkt das alles jedoch komplett natürlich und menschlich. Das ist genauso schön, wie diese Platte.
Eine Rezension zum Album gibt es hier.
2. Arcane Roots – Melancholia Hymns
Arcane Roots Frontmann Andrew Groves entdeckte vor einigen Jahren analoge Modular-Synthesizer für sich. Diese Liebe überträgt er auch auf das zweite Album seiner Band, durchmischt den oft mit Math-Anleihen durchtränkten Alternative-Rock mit einer guten Portion Electronica und hinterlegt nicht selten noch eine wunderschöne, im Hintergrund laufende Klavierspur. Vor allem die Soundästhetik steht hier im Vordergrund. Neben dieser bildet vor allem das Artwork ein einheitliches Gesamtkonzept mit der Musik, die oft von Laut-Leise-Kontrasten angetrieben wird und nicht selten große Klangteppiche auffährt. Der Hörer bekommt beim Endprodukt jede Sekunde Arbeit, die das Trio mit ihrem kleinen Team in dieses Projekt gesteckt hat, zu spüren. Das ist nicht nur für die Band schön, sondern auch für die Fans, deren Geduld einige Jahre auf die Folter gespannt worden war. Diese Warterei hat sich aber absolut gelohnt.
Eine Rezension zum Album gibt es hier.
1. Casper – Lang Lebe Der Tod
„Lang Lebe Der Tod“ von Casper stellt das komplette Gegenstück zu seinem Vorgänger „Hinterland“ dar, der von Hits nur so gespickt war, im Soundbild eher seichtere Klänge auffuhr und den Extertaler in die größten Arenen katapultierte. Zu seinem bereits vierten Album gab Casper nur sehr wenige ausgewählte Interviews, spickte das Werk selber mit vielen düsteren, teils krachenden Industrial-Beats und präsentierte sich in seinen Texten gesellschaftskritischer denn je. Statt dem Weg des Erfolgs zu weiterzugehen, setzt der Rapper einen Schritt zurück, entfernt sich vom Mainstream und verschiebt den Release einfach mal um ein Jahr, weil er mit dem Endprodukt noch nicht zufrieden war. Schon der düstere Opener fährt mit Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten, Dagobert und Sizarr gleich drei Feature-Gäste auf, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Casper bringt zusammen, was eigentlich nicht zusammen passt und umschließt den Hörer mit einem Zusammenschluss aus Rap, Rock, Electronica und Metal. Das ist nicht nur oft unangenehm, sondern widerspiegelt auch die unsicheren Zeiten, in denen wir leben. „Lang Lebe Der Tod“ ist wohl nach „XOXO“ das zweite Meisterwerk Caspers und wird dafür sorgen, dass der 35-Jährige so schnell nicht wieder in Vergessenheit geraten wird.
Eine Rezension zum Album gibt es hier.
Außerdem empfehlenswert:
Kraftklub – Keine Nacht Für Niemand: Nach der kontroversen Vorabsingle schien die Hoffnung auf ein guten Nachfolger für „In Schwarz“ eigentlich schon verloren. Kraftklub entwickeln sich jedoch ein wenig in die Richtung der neueren Ärzte und klingen so vielseitig wie nie zuvor. Das funktioniert auf Albumlänge doch! Rezension hier.
Queens Of The Stone Age – Villains: Vertrackter und weniger hitlastig als sein Vorgänger, dafür musikalisch an der Grenze zur Genialität. Rezension hier.
The World Is A Beautiful Place & I’m No Longer Afraid To Die – Always Foreign: Ein Emo-Album, das musikalisch toll arrangiert ist und sich vor allem mit der (amerikanischen) Gesellschaft auseinandersetzt. Rezension hier.
Heisskalt – Live: Fängt die Live-Energie des Trios perfekt ein. Rezension hier.
Frank Carter & The Rattlesnakes – Modern Ruin: Mr. Carter ist nicht mehr wütend. Dafür schreibt er jetzt gute Rock-Songs. Ok. Rezension hier.
Beatsteaks – Yours: Die Berliner vereinen all ihre Stile auf einem Album, das absoluten (gewollten) Mixtape-Charakter hat. Rezension hier.
Pulled Apart By Horses – The Haze: Die Band aus Leeds hat sich für ihr viertes Album eine Scheibe des Sounds ihrer frühen Werke abgeschnitten und diesen mit dem Stonerrock ihres Drittlings vermischt. Das funktioniert erstaunlich gut. Rezension hier.
Jamie Lenman – Devolver: Einfach ein tolles Rock-Album. Rezension hier.
Die Rechte für die Albencover liegen bei Ahzumjot, Universal Music, Warner Music, Big Scary Monsters, Leoniden, Grand Hotel Van Cleef, Easy Life Records und Sony Music Entertainment Germany.
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.