Wer wird 2022 durchstarten? Wie gewohnt blicken wir Anfang des Jahres in die Glaskugel und versuchen einen Überblick über die aktuell spannendsten Newcomer*innen zu geben.
Einige Dinge fallen bezüglich unserer diesjährigen Auflistung ins Auge: Rock-Musik steht weniger im Fokus denn je. Und dafür Rap so sehr wie noch nie. Außerdem: Genre is dead! Viele der aufgeführten Künstler*innen lassen sich nicht klar einem Genre zuordnen. Zudem: Gleich zwei Künstlerinnen sammelten in ihren Jugendjahren schon im Schauspiel Erfahrung, starten jetzt aber auch so richtig mit ihrer Musik durch. Mehr dazu kurz am Ende! Jetzt erstmal zu unserer Auswahl:
Achtung: Unseren 2023er-Newcomer*innen-Beitrag findet ihr hier.
anaïs (#Pop & #Alternative/Indie)
Dass englischsprachiger Indie-Pop aus Deutschland durchaus gut funktionieren kann, haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder gesehen. Die deutsch-belgische Sängerin anaïs beweist das mit ihrem Dream-Pop nun erneut. Gleich vier Singles veröffentlichte die 21-Jährige im vergangenen Jahr, manche ihrer Songs haben bereits über eine Million Hörer:innen bei Spotify. Prominente Unterstützung bekommt sie dabei unter anderem von Jeremias Heimbach, Sänger der Band Jeremias aus Hannover (die wir vor zwei Jahren übrigens auch in unserem Newcomer:innen-Beitrag dabeihatten). Der sommerliche, verträumte Sound der Sängerin hat definitiv das Potenzial, im kommenden Jahr ebenso durchzustarten wie die Musik der Jungs von Jeremias in den vergangenen Monaten – und vielleicht dürfen wir uns ja sogar bald über eine erste EP freuen? (Emilia)
April (#Pop)
Von der in Irland geborenen, mittlerweile aber in London lebenden April darf 2022 einiges erwartet werden.
Zwar hat die 22-jährige schon vor zwei Jahren erste Tracks veröffentlicht – so wie es aussieht, könnte man in diesem Jahr aber mit der ersten LP rechnen. Die junge Künstlerin, die sich musikalisch zwischen den Welten des Dream-, Alternative- und Indie-Pops hin- und herbewegt, nennt Lana del Rey als ihr großes Vorbild. Ihr Song „The Impossible task of feeling complete“ kann bei Spotify fast zwei Millionen Klicks aufweisen, die letzte Single „Someone that I Made“ erschien im November. Reinhören schadet nicht! (Christopher)
Apsilon (#Rap/Hip-Hop)
“Rap ist das Sprachrohr der Unterdrückten” predigen Rapjournalist*innen gerne. Sie haben ja nicht Unrecht. Der Grundgedanke, aus dem Rap entstanden ist, basierte darauf, sich als von der Gesellschaft unsichtbar gemachte Gruppe eine Stimme zu verschaffen. Heute ist dieser Grundgedanke irgendwie verloren gegangen, Rap hat sich zu diesem neoliberalen Erfolgsversprechen gewandelt und tritt oft mehr nach unten als irgendetwas anderes. Das junge Four Music Signing Apsilon aus Berlin-Moabit schafft es, in seinen Texten diesen Grundgedanken wieder aufzugreifen und sichtbar zu machen. In Zusammenarbeit mit Ahzumjot entstehen Tracks, die uns auf wummernden Bässen durch Berlin führen und allein durch Zustandsbeschreibungen eine Art des Widerstandes formulieren. Ich möchte ihn nicht in diese staubige Kategorie “Polit-Rap” einordnen, die bei uns allen höchst langweilige Bilder entstehen lässt. Apsilon ist jung, frisch, direkt und formuliert seine Realität in Rapsongs. Ich bleibe gespannt auf was im nächsten Jahr kommt. (Leonie)
Babyjoy (#Rap/Hip-Hop)
RnB kann auch auf Deutsch spannend sein und funktionieren, das haben uns Künstler*innen wie LAYLA und Sumpa über die letzten Jahre gezeigt. Auch Babyjoy beweist uns das regelmäßig in ihren Releases. Zusammen mit dem Produzenten KazOnDaBeat trägt sie uns in ihren Tracks durch die Straßen Schönebergs – ein Stadtteil, der sonst eher für Cloud-Rap a la BHZ und Yin Kalle bekannt ist. Joy ist dazu kein Gegenpol, sie ist aber auch kein Teil davon: ihre Songs lösen sich von diesen Genregrenzen. Mit einer Leichtigkeit switcht sie zwischen Rap und Gesang, Deutsch, Französisch und Englisch – ohne, dass es komisch oder aufgesetzt wirkt, schweren Trap-Beats und federleichten RnB-Melodien. In ihren Texten bespricht sie zwischenmenschliche Beziehungen, Einsamkeit und Liebe, Zusammen(halt) und Rassismuserfahrungen, bei denen sie plötzlich wieder ganz alleine da steht. Sie schafft es in ihrer Musik, den richtigen Grad zwischen Verträumtheit und Ernsthaftigkeit zu spannen, Sprachen und Genres. Im Februar 2021 kam ihre erste EP, Troubadour, seitdem wurde es ruhiger um die Berlinerin, in diesem Jahr soll aber neue Musik folgen. (Leonie)
Betterov (#Alternative/Indie)
Unser nächster Künstler fällt nur bedingt in die Kategorie „Newcomer 2022“, da er bereits im vergangenen Jahr für viele Musikfans zum neuen Geheimtipp wurde. Die Rede ist von Betterov, Singer-Songwriter, 27 Jahre und Wahlberliner. Nachdem er 2019 seine erste EP „Viertel vor Irgendwas“ veröffentlichte ist, folgte 2020 seine Single „Dussmann“, mit der er in der Musikbranche für Aufsehen sorgte. Letzten Monat veröffentlichte er außerdem seine eindrucksvolle „Dussmann Live Session“, für die er diverse Gäste wie Tristan Brusch oder Millarden begrüßen konnte. Das Besondere an Betterov sind neben seiner spannenden Stimme und der sympathischen Ausstrahlung vor allem seine selbst geschriebenen Songs, in denen er Pop, Indierock und Post-Punk-Elemente mit aktuellen Themen seiner Generation kombiniert. Wir glauben, dass 2022 ein großes Jahr für Betterov werden wird und sind sehr auf seine nächste Veröffentlichung gespannt. Seine für April geplante Tour ist mittlerweile fast vollständig ausverkauft. (Yvonne)
Donkey Kid (#Alternative/Indie)
Musik, die sich anhört wie aus einem (guten!) Coming-of-Age-Film und gleichzeitig, als hätte jemand das Radio auf die 80er Jahre zurückgedreht: so klingt für mich Donkey Kid. Im Sommer 2021 hat “Linger On” das Herz der deutschen Indie-Szene erobert und den 20-jährigen Jurek zusammen mit seiner Band auf die Bühnen und in die Playlisten dieses Landes geholt. Mit viel Bildsprache und einer unermüdlichen Lässigkeit singt er übers Verliebtsein und zurückgelassen werden, schafft es, einen Text über Einsamkeit und sich-selbst-im-Weg-Stehen in einen Song über seinen Kater zu verpacken und gleichzeitig jeden Song nach einem leichten Sommertrack klingen zu lassen. Wenn alles auf Spotify durchgehört ist, gibt es zum Glück noch genügend Gems auf Soundcloud – und in diesem Jahr kommt dann hoffentlich auch ein erstes größeres Projekt. (Leonie)
Flawless Issues (#Alternative/Indie & #Punk)
Flawless Issues heißt eigentlich Max Philipp, kommt aus Stuttgart und bedient den 80er-Retrovibe, der vor einigen Jahren zunächst mit Drangsal und zuletzt auch mit Molchat Doma, Edwin Rosen und Co durch den Indie fegte. Aus dem Wirkkreis Edwin Rosens stammt auch Flawless Issues, er spielt in dessen Band, veröffentlicht über dessen Label. Vier Songs hat er seit 2020 offiziell rausgehauen – auf Soundcloud sind es zwei mehr. Die bisherigen Releases stellen Synthesizer- und Drumcomputer-lastigen 80s-Post-Punk mit englischsprachigen Lyrics voran. „Good Vibrations“ etwa ist sein erfolgreichster Song – ein Cover des gleichnamigen Beach Boys-Stückes – und knackig-arrangiert und tanzbar. An anderer Stelle jedoch stehen die Gitarren im Vordergrund wie im flotten „Cut The Rope“. 2022 wird aller Voraussicht nach mehr Musik folgen. Die Durchstartbedingungen sind gut. (Jonas)
Nina Chuba (#Rap/Hip-Hop)
Schon vor der Veröffentlichung eines Debütalbums einen radikalen Stilwechsel durchziehen? Nina Chuba macht das mal eben – und performt in zwei ganz unterschiedlichen Genres erstklassig. Angefangen mit englischsprachigen Alternative-Pop für internationale Bühnen macht die Künstlerin 2021 eine Kehrtwende und veröffentlicht melodischen Deutsch-Rap. Was beide Standbeine vereint: Chubas rauchig-melancholisches Timbre und das Händchen für große Refrains. Anspieltipps, um diese gegensätzlichen Sounds zu erforschen: “I Owe You Nothing” und “Alles gleich”. (Julia)
Paula Hartmann (#Alternative/Indie & #HipHop/Rap)
Auf Paula Hartmann konnten sich in den letzten Monaten alle einigen. Casper und Drangsal sind Fans, andere Musikmedien ebenso und wir natürlich auch. Vier Solo-Songs erst hat die 20-Jährige veröffentlicht. Auf denen vermengt die Westberliner Sängerin Indie, Rap und Pop zu einem hauchig-melancholischem Substrat. Herausragend sind dabei vor allem ihre bildstarken Texte. „Wo fällt die Liebe hin? Wo muss ich steh’n, um sie zu fang’n?“, fragt sie etwa in „Truman Show Boot“. „Sollbruchstelle Herz mit ‘ner Basisfraktur“, wiederum singt sie in „Fahr Uns Nach Hause Pt.1“. 2021 unterschrieb sie bei Four Music, einer Sony Tochterfirma. 2022 könnte… nein, es wird ihr Jahr werden! (Jonas)
Tristesse (#Rock & #Alternative/Indie)
Gitarrenband in klassischer Besetzung hat es Anno 2022 nicht leicht – gerade als DIY-Projekt. Umso vielversprechender ist es, wenn es einer Band gelingt (fast) ganz ohne Live-Konzerte und großes Label von sich Reden zu machen. Tristesse aus Berlin ist das mit ihrer Debüt-EP „Im Schwächsten Licht“ geglückt. Die erreichte dank geschickter Platzierung und vielversprechendem Genremix bereits mehrere tausend Hörer*innen. Zurückzuführen ist das wohl auch darauf, dass das Quintett Shoegaze und Indie in Vereinigung bringt und damit jung und alt zugleich anspricht. Dieses Jahr soll es noch mehr Musik von der Band geben. Und wenn dann auch wieder Live-Shows möglich sind, dann steht weiterem Wachstum nichts im Wege. (Jonas)
Verifiziert (#Rap/Hip-Hop & #Alternative/Indie)
Zugegeben: Die Wiener Rapperin ist wohl den meisten in der deutschsprachigen Rapszene schon ein Begriff. Dennoch hat sie noch immer einen Newcomerinnen-Status – was sich unserer Meinung nach im kommenden Jahr ändern wird. Denn Verifiziert aka Veri ist aktuell eine der spannendsten deutschen Rapperinnen. Mit soften LoFi-Beats, klarer Stimme und elektronischen Einflüssen in ihren Songs erschafft sie einen Sound, den man auf diese Art an der Schwelle zwischen HipHop und RnB noch vermisst hat. Trotzdem fügt sie sich mit ihrem Stil nahezu nahtlos in eine neue Generation von Künstler:innen im Deutschrap ein, die gefühlvolle, oft melancholische, softe, aber doch eingängige Musik machen – ich denke es ist klar, wen ich hier unter anderem meine. Erst Ende 2021 veröffentlichte Verifiziert ihr Mixtape „40100″ – wir dürfen gespannt sein, was uns in diesem Jahr noch von ihr erwartet. (Emilia)
Wa22ermann (#Rap/Hip-Hop)
Das Team um Pashanim, Symba, Verifiziert & Co. haben eine neue Kreuzbergerin unter ihren Fittichen: Wa22ermann ist ganz frisch im Game und bekam beim Release ihres ersten Songs “Salsa” (Oktober 2021) Support von Szenekenner:innen und Berliner Künstler:innen wie Longus Mongus. Der simple Beat des Songs erinnert an Yung Hurn oder den genannten Symba und bekommt freche, feministische Punchlines verpasst. Das klingt bei Wa22ermann lockerer und cooler als bei vielen anderen Newcomer:innen, die einen ähnlichen Style erreichen wollen. Als zweite Single wurde im Dezember “Graue Wolken” mit Ello nachgelegt, der einen nachdenklicheren Ton gepaart mit dem üblichen Hoodtalk anschlägt – ein ähnlicher Move wie Pashanims “Hauseingang”. Sehr spannend und vielversprechend! (Luis)
Wet Leg (#Alternative/Indie)
Wet Leg machen geradlinigen Indie-Rock und fahren jetzt schon Unmengen an Vorschusslorbeeren ein. Das ist alleine wegen des Genres schon erwähnenswert, denn derartige Riffs haben schon länger nicht mehr für so viel Begeisterung gesorgt: Millionen Streams, Auftritte bei Later… with Jools Holland und zwei BBC 6 Music A-Lists. Smoothe Bässe breiten Teppiche für straighte Tracks im Indie-Club aus, bereitgestellt von Rhian Teasdale und Hester Chambers. Dass die Songs mit aktuellem Bezug auch mal ein paar Tränchen in die Augen treiben können, macht den kathartischen Effekt beim Tanzen nur erfüllender. Vorhang auf für die neue Lieblingsband! Im April erscheint übrigens das Debütalbum “Wet Leg”. Wir sind hyped. (Julia)
Na, wer waren die zwei Schauspielerinnen? Natürlich Paula Hartmann (unter anderem Soko Potsdam und Tatort) und Nina Chuba (unter anderem Die Pfefferkörner). Wir haben alle Artist außerdem in einer Playlist zusammengefasst. Das gibt es hier. Auf ein gutes Jahr 2022!
Bildrechte: Conrad Schoen (Babyjoy), Niklas Apfel (Donkey Kid), Claudia Schröder (Paula Hartmann), Miklas Heinzel (Tristesse), Tobias Schult (Betterov), Sony (Verifiziert).
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