Jahresrückblick 2018: Jonas

Jahresrückblick Jonas 2018

Das Musikjahr 2018, auf das sich dieser Jahresrückblick konzentrieren soll, bot neben vielen Neuentdeckungen für mich vor allem solide Alben bereits eingesessener Künstler (tatsächlich erstaunt mich der eigentlich nicht vorhandene Anteil an Frauen in meiner Aufzählung), sowie einige Enttäuschungen ebendieser. Verzichten möchte ich dabei auf eine Rückschau der vergangenen Konzerte – da habe ich einfach zu viel und vor allem zu viel verschiedenes gesehen. Deshalb liegt der Fokus der folgenden Aufarbeitung auf den auf schwarzes Plastik und in digitale Form gepressten musikalischen Ergüssen 2018. Dabei entfachte ein kleines Leuchtfeuer erneut meine Liebe zu Rap (besondere Empfehlungen: Denzel Curry mit „TA13OO“, Haiyti, die den Autotune-Rap-Sound auf Feuilleton-Niveau hob, und Ahzumjot mit seinem gigantischen Playlist-Album „Raum“) und tauchten einige Künstler auf meiner Bildfläche auf, die ich bislang als uninteressant und generisch abgestempelt hatte, sich aber in spannende Gefilde weiterentwickelten. Zu den vielen positiven Eindrücken später mehr. Nun erstmal der Blick auf die Werke, die nicht so gelungen waren oder ihr Potential nicht in Gänze ausschöpfen konnten – der Fokus auf dem Negativen liegt mir ja.

Am Rennen um das „Album des Jahres“ konnten sich dieses Jahr so einige Alben einst geliebter oder immer noch gern gehörter Acts nicht beteiligen. Da wären die Liverpooler The Wombats, die mit ihrer laschen Rückbesinnung nur langweilen konnten, die Black Foxxes, die auf „Reiði“ zwar deutlich dynamischeres Songmaterial aufweisen konnten, mit der überladenen Produktion jedoch weit daneben griffen oder auch die Editors, deren Album „Violence“ als Gesamtwerk nicht mit den hohen Niveau der Vorabsingles „Magazin“ und „Hallelujah (So Low)“ mithalten konnte. Die Wahlkölner OK KID konnten ihren dritten Langspieler „Sensation“ zwar auf der zugehörigen Tour deutlich interessanter gestalten, entwickelten sich musikalisch jedoch genau entgegen meines Musikgeschmacks – da lag mir das Post-Rock-Indie-Rap-Gemisch von „Blüte Dieser Zeit“ doch eher. Die deutlich zahmeren Marmozets um Frontfrau Becca Macintyre konnten mich mit „Knowing What You Now Know“ ebenfalls nicht wirklich mitreißen, was wohl ebenfalls der überflüssig vielseitigen und seichten Produktion geschuldet ist.

Schon wärmer wird die Jagd um das am meisten geliebte und totgedudelte Album der vergangenen 365 Tage mit vielen starken, auf Dauer jedoch zu vorhersehbaren Entwicklungen, für meinen Geschmack zu simplen Ausarbeitungen. Da wären die Polit-Punker von Feine Sahne Fischfilet, die dieses Jahr in aller Munde waren und mit „Sturm & Dreck“ das wohl beste Album ihrer Karriere ablieferten. Auch Don Broco zeigten mit ihrem bereits dritten Studioalbum „Technology“, dass sie weit mehr können, als hübsche Pop-Rock-Ohrwürmer zu schreiben und legten damit ihren bis heute stärksten Output vor. Ähnlich sieht das auch für AnnenMayKantereit aus, die mich in der zweiten Jahreshälfte mit einem sympathischen Interview und einem durchweg authentischen Album ziehen konnten. 

Leicht anders sieht das für Frank Turner aus, der sich dem Kern seiner Selbst mit „Be More Kind“ zwar etwas entfernte, aber wider Erwarten eine solide Pop-Platte ablieferte. Auch die Post-Black-Metal-Giganten Deafheaven entfernten sich mit “Ordinary Corrupt Human Love” vom brachialen, stets düsteren Metal-Ableger und erstreckten ihre Tentakel noch weiter in Richtung Post-Rock und Shoegaze. Ganz der alte war hingegen Ex-Oceansize-Frontmann Vennart, dessen zweites Solo-Album zwischen verprogten Gitarrenspielereien und elektronischeren Ausflügen pendelte und damit sehr knapp an den zehn herausgehobenen Alben vorbeirutscht. Besondere Erwähnung verdienen außerdem Pabst, deren grandioser Grunge-Britpop-Hybrid „Chlorine“ leider etwas zu spät in meinen Aufmerksamkeitsbereich rutschte, Bilderbuch, die mit „mea culpa“ eins ihrer zwei erwarteten Alben veröffentlichten und damit der deutschen Popkultur Jahre voraus sind, und die Briten Rolo Tomassi, die Blast-Beats, Mathcore-Elemente und Shoegaze miteinander verschwimmen ließen. So, jetzt aber Manege frei für die zehn glücklichen Treppchen-Anwärter!

Platz 10: Heisskalt – Idylle

Heisskalt - Idylle

Für die Nun-Nicht-Mehr-Stuttgarter Heisskalt war das Kalenderjahr 2018 wohl ein durchweg durchwachsenes. Erst die scheinbar aus dem Nichts kommende Veröffentlichung des dritten Albums „Idylle“, darauf die kleine Tour, auf der man sich erstmals als Trio probierte, sowie die vielen Festivalauftritte, mit denen man die Bandwiederauferstehung gebürtig feiern wollte. Mitten in der Festivalsaison folgte plötzlich der unglückliche Tob-Unfall von Mal-Gitarrist und Mal-Bassist Philipp Koch, der nicht nur zur Absage der restlichen Sommerauftritte und später der gesamten im Winter geplanten Tour, sondern auch einer vorzeitigen Bandpause führte. Nunja, irgendwie möchte das Universum nicht, dass die Band zu dritt ihr Unwesen treibt. „Idylle“ ist trotz der vielen neuen Umstände ein spannendes Werk geworden, das sehr viel mehr mit Dynamiken arbeitet als die Vorgänger und mit deutlich humoristischem Anstrich weniger nach Innen als nach Außen blickt. Der raue Straßenkötersound der Platte, sowie die nicht leicht zugängliche Hit-Charakteristik der Songs trägt dazu dann sein Übriges bei. (Rezension hier)

Platz 9: Twenty One Pilots – Trench

Überraschen konnten die Amerikaner Twenty One Pilots, deren fünftes Album „Trench“ zwar eine gänzlich andere Richtung einschlug als die brachiale Ankündigungssingle „Jumpsuit“ angedeutet hatte, in Gänze jedoch aufzeigt, dass durchkonzipierte und homogene Pop-Musik auch heute noch eine Daseinsberechtigung hat und Themen wie Depressionen, Angstzustände und Selbstmordgelüste keine No-Go’s im Mainstream sind. Überraschend metaphorisch leitet Sänger, Rapper und Multiinstrumentalist Tyler Robert Joseph durch die 14 Songs des Langspielers, der trotz seiner fast einstündigen Laufzeit durchgängig zu unterhalten weiß, und singt über die Flucht vor den eigenen mentalen Problemen oder spielt in Gedanken mit den Auswirkungen seines eigenen Selbstmords, der durch die Glorifizierung von Fans und Öffentlichkeit die Popularität seiner eigenen Band wohl vervielfachen würde. Diese Dringlichkeit des Inhalts gepaart mit den tollen kreativen Ideen einzelner Stücke machen „Trench“ zu der spannendsten Pop-Platte des Jahres. (Rezension hier)

Platz 8: Thrice – Palms

Thrice - Palms

Rock-Musik soll tot sein? „Nein“, sagen Thrice und schmettern jedem EDM-Pop-Fanatiker und 0815-Rap-Pumper in Supreme-Shirt ihr neuntes Album „Palms“ entgegen. Auf diesem zeigen die Post-Hardcore-Legenden eindrucksvoll auf, wie viel Innovation Rock-Musik heutzutage doch noch abkann. Da wären die wabernden Synthie-Arpeggios in „Only Us“, der düstere digitale Bass im Refrain der Mut-Mach-Ballade „The Dark“, der Klaviertrack „Everything Belongs“ oder auch das soulige „My Soul“. Frontmann Dustin Kensrue liefert oben drauf noch die stärkste Stimmleistung seiner Karriere ab und gibt sich mal kraftvollen Screams hin („A Branch In The New River“), mal sehr ruhigen, in sich gekehrten Tönen („A Branch In The New River“). Anfang der 2000er gehörte das Quartett zu den wenigen Acts, die den Post-Hardcore revolutionierten, knapp zwanzig Jahre später gehören sie fraglos immer noch zu dem Spannendsten, was amerikanische Gitarrenmusik hervorgebracht hat. Nimm das, David Guetta! (Rezension hier)

Platz 7: MewithoutYou – [Untitled]

mewithoutYou - Untitled

Seit sieben Alben und knapp 18 Jahren stehen die Spoken-Word-Pioniere von MewithoutYou für ein konstant hohes Qualitätsniveau. Wie keine andere Band wissen sich die Amerikaner darin zu beweisen, trotz stetiger Weiterentwicklung, immer ihren Kern zu erhalten: den emotionalen, mal tanzbareren, mal krachigeren Post-Hardcore. Auch „[Untitled]“ schließt hier an und schöpft das Potential der Musiker komplett aus. Ob das treibende „Julia (or, ‘Holy to the LORD’ on the Bells of Horses)“, das wunderschöne „[dormouse sighs]“ oder das erst seichte, dann riffige „New Wine, New Skins“ – hier stimmt jedes Experiment, jede Melodie, jede erst gesprochene, dann geschrieene Note. Da tut es fast weh, dass MewithoutYou trotzdem immer noch so etwas wie ein Geheimtipp sind. (Rezension hier)

Platz 6: Leoniden – Again

Leoniden Again

Der einzige Fortschritt, den die Kieler auf ihrem Zweitling gehen, ist der zurückgeschraubte Anteil unbändiger Math-Elemente im Schnittpunkt aus Indie, Rock und Pop. Ansonsten spinnt „Again“ das weiter, was das Debüt begonnen hatte, ist dabei jedoch noch hitlastiger, noch fokussierter. Mit „River“, „Kids“, „People“ und „Alone“ gibt es auf dem zweiten Leoniden-Album gleich vier Stücke mit absolutem Radiopotential, sowie mit „Colorless“, „Down The Line“, „One Hundred Twenty-Three“und „Not Enough“ genug Futter für alle Gitarrenfanatiker und Moshpitjünger. Sänger Jakob Amr baut seine Stimmfähigkeiten noch weiter aus, gleitet noch häufiger in das hohe Falsett und sticht damit noch deutlicher als Anführer der Truppe hervor als zuvor. „Again“ wird das Album sein, das der Band den Schritt von den Bars und Clubs in die Hallen geebnet hat – die Nachfolger werden sie wohl in die Arenen treiben. Verdient. (Rezension meiner lieben Kollegin Marie hier)

Platz 5: Drangsal – Zores

Drangsal - Zores

Das beste Beispiel für gelungene Weiterentwicklung liefert Drangsal, der sich mit seinem zweiten Langspieler „Zores“ dem Pop anbiedert, sich vermehrt der deutschen Sprache bedient und auch immer wieder Platz für tolle Instrumental-Passagen einräumt, in denen man den Einfluss eines Max Rieger wohl am deutlichsten spürt. Man schaue nur auf das wunderbare Outro des Closers „ACME“. Wenn Drangsal mit loser Zunge von seinem Gemächt singt und es damit sogar ins Radio schafft, muss ein absoluter Hit geschaffen sein. Den gibt es mit „Turmbau Zu Babel“ in jedem Fall. Einziges kleines Manko des Albums: Das irgendwie halbironisch gemeinte „Gerd Riss“ über den gleichnamigen Motorradfahrer, das stolz neben dem schrecklichen Die Ärzte-Hit „Mein Freund Michael“ steht. (Rezension hier)

Platz 4: Turnstile – Time & Space

Turnstile - Time And Space

In knappen 25 Minuten knallt die momentan wohl spannendste Hardcore-Band des Planeten auf ihrem zweiten Album „Time & Space“ alles raus, was das Genre seit Ende der 1970er-Jahre so grandios und spannend hält und schafft es dabei immer wieder, auch modern und progressiv zu klingen. Das eindrucksvolle Stimmorgan von Bassist Franz Lyons, sowie die vielen loungigen Einspieler zwischen den Songs sorgen dafür, dass neben den vielen treibenden Hardcore-Grooves die Abwechslung geboten wird, die der Vorgänger noch misste. Das unterhält, ist kurzweilig und haut an den richtigen Stellen auch ordentlich „auf die Fresse“. Yeah!

 

Platz 3: Die Nerven – Fake

Das pessimistischste Trio Deutschlands bringt das Jahr 2018 mit „Fake“ auf den Punkt. Hass-Trolle, Fake-News, die Sehnsucht nach der glorreichen Vergangenheit, mentale Verirrtheiten, Verletzlichkeit, Regungslosigkeit, Konsumdrang, Verschwörungstheoretiker und so viel mehr – das alles in die kryptischen, häufig skizzenartigen Texte von Rieger, Kuhn und Knoth, sowie die mal ruppeligen, mal erstaunlich poppigen Gitarre-, Bass-, Schlagzeug-Soundflächen gepackt, ergibt eins der spannendsten Post-Irgendwas-Alben des Jahres. (Eine Rezension meiner geehrten Kollegin Julia gibt es hier)

 

Platz 2: Blackout Problems – Kaos

Blackout Problems - Kaos

Das verletzlichste Album des Jahres liefern die Münchener Blackout Problems ab. Sänger Mario Radetzky gibt den Zuhörern eine tiefen Einblick in sein Seelenheil und singt von Trennungen, miesen Zeiten und innerer Unordnung. Seine Kollegen unterstützen ihn dabei mit deutlich gesitteteren Songs und mehr Melodie. Die Band mischt ihrem Alternative-Rock-Sound immer wieder auch elektronische Elemente bei – seien das Vocoder-Effekte, gesamplete Gitarrenflächen oder vertrackte Schlagzeugbeats. Dieser ganz eigene Rock-Mischmasch klingt erstaunlich erfrischend und funktioniert auch in den Live-Sets der Gruppe wunderbar. Der deutliche Schritt nach vorn in Sachen Songwriting und der bis auf’s Letzte ehrliche Einblick in Radetskys Gefühlswelt sprechen für einen verdienten zweiten Platz. Auf, dass die kommenden Jahre für den Frontmann wieder etwas angenehmer werden! (Rezension gemeinsam mit Marie hier)

Platz 1: Idles – Joy As An Act Of Resistance.

Idles - Joy As An Act of Resistance

Wütend und liebend zugleich? Gefühlvoll und voller Elan? Aktuell und trotzdem so alt? Modern und klassisch? Die Idles erschienen dieses Jahr gefühlt aus dem Nichts auf meiner Bildfläche und konnten mich nicht nur mit einem grandiosen Auftritt im rappelvollen Düsseldorfer Zakk begeistern, sondern auch mit ihrem zweiten Album auf voller Länge überzeugen. Mit ihrer ganz eigenen Punk-Interpretation wüten sich die fünf Engländer durch ihre eigene Gefühlswelt und die nicht selten kritisch beäugte Gesellschaft. Da steht ein „Samaritans“, das mit der erzkonservativen männlichen Erziehung und gleichzeitig jeglicher toxischen Maskulinität abrechnet, neben einem „June“, in dem Frontmann Joe Talbot sein Herz und seine Seele über die Totgeburt seiner Partnerin ausschüttet. Die Musik, mal zum Fäuste recken geeignet, mal sperrig und unmelodisch, unterstützt diese stets ernsten, häufig aus Frust mit viel Ironie und Witz vorgetragen Themen perfekt. „Joy As An Act Of Resistance“ ist Katharsis und Gesellschaftskritik zugleich – einfach das wichtigste Album des Jahres.

Für das neue Jahr wünsche ich allen Lesern, Freunden und Kollegen nur das Beste. Für das Musikjahr 2019 wünsche ich mir in meinem nächsten Rückblick einen höheren Frauenanteil.

Die Rechte für die Cover liegen bei Glitterhouse Records, Munich Warehouse, Pias / Partisan Records, Roadrunner Records, Caroline, Irsinn Tonträger, Big Scary Monsters, Epitaph Records, Heisskalt und Fueled By Ramen.

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