Uff – und schon neigt sich das Jahrzehnt dem Ende zu. Wegen meines noch eher zarten Lebensalters gestalteten sich die 2010er-Jahre entsprechend ereignisreich: Abitur, Einstieg in das Studium, Beginn für meinen lieben Freund Melvin und das Herzensprojekt minutenmusik zu arbeiten. Irgendwie ganz schön verrückt, auch was aus dem kleinen Blog geworden ist. Liebe an alle, die hier mitlesen, -arbeiten und uns mit Akkreditierungen und Bemusterungen zuballern. Toll!
Nun aber zum Jahr 2019: Das war musikalisch ganz schön stark. Dementsprechend schwer fiel es mir, nur zehn Alben für eine Top-10-Liste auszuwählen. Nunja, irgendwie hat das aber dann ja doch hingehauen. Einige potentielle Anwärter auf die Liste – ja, Spoiler! Die Alben haben es nicht reingeschafft – möchte ich nun aber dennoch im Kurzdurchlauf vorstellen. Film, äh Musik ab!
Wie spannend die hiesige DIY-Szene klingen kann, zeigten dieses Jahr Acts wie die scheinbar nach dem verrücktesten Gitarrensound suchenden Lingua Nada, Kepler und La Petite Mort / Little Death, die auf ihrem Debüt „Disco“ tolle Antiparty machten. Aufregend ging es auch in Teilen der Rap-Szene zu, die mal wieder durchblitzen ließ wie vielschichtig das Genre doch sein kann. Während ein OG Keemo auf „Geist“ in brutaler Manier mit seinen Alltagsrassismuserfahrungen abrechnete, widmet sich Ex-Tigers Jaw Frontmann Wicca Phase Springs Eternal auf dem tollen „Suffer On“ seinen inneren Dämonen. Heisskalt-Sänger Mathias Bloech verpackte sein Innerstes für seine Debüt-EP „Glück“ dahingegen in kühlen Post-Punk und Synthie-Pop und wagte dabei das ein oder andere Experiment, das im Heisskalt-Rahmen so wohl keinen Sinn ergeben hätte.
Bereits im Frühjahr gaben Brutus und Pup etwas mehr auf die Fresse: Erstere mit ihrem Post-Rock-Black-Metal-Mischmasch, letztere mit ihrem verschmitzten Kellerclub-Punk-Rock. Mannequin Pussy fühlen sich wohl ebenfalls in den kleinen DIY-Schuppen wohl, durchzogen ihren Punk auf ihrem Drittling „Patience“ jedoch mit deutlich mehr Hardcore und Indie. Deutlich ruhiger, dafür ganz getreu dem Titel der Mannequin Pussy-Platte, gingen es da American Football an, die ihrem in Post-Rock getränkten Emo die nötige Zeit gaben, sich in Ruhe entfalten zu können. Die Ruhe weg hatten auch die Blood Red Shoes, die sich für ihr fünftes Album „Get Tragic“ gleich fünf Jahre Zeit ließen und sich in der Zwischenzeit als Band neu entdeckten.
Abgerundet wurde das Musikjahr 2019 von zwei Veröffentlichungen aus dem Indie-Bereich: Von Wegen Lisbeth konnten nicht nur mit dem cleveren Titel ihres zweiten Studioalbums überzeugen, sondern auch mit der deutlich musikalischeren Ausrichtung der dreizehn neuen Stücke. Justin Vernon aka Bon Iver übte sich mit „i,i“ ebenfalls am Experiment und testete ein weiteres Mal die Grenzen seines Singersongwriter-Ansatzes. Nun nähern wir uns aber auch schon in großen Schritten meinen zehn liebsten Alben. Also los:
Platz 10: Bilderbuch – Vernissage My Heart
Bilderbuch brauchen nur wenige Sekunden, um jeglicher Stil-Verortung den Kampf anzusagen. Der erste Song des zweiten Langspielers binnen drei Monaten zeigt die Österreicher so heavy wie noch nie. Klar, das ist immer noch kein Metal, nach dem fluffigen Lounge-Pop von „Mea Culpa“ hätte der Kontrast jedoch nicht größer ausfallen können. Die Band um Rampensau Maurice Ernst – für diesen Tour-Zyklus sind die Haare schwarz – macht auch auf „Vernissage My Heart“ einfach das, was sie möchte – ganz getreu dem Motto: „Scheiß auf Erwartungen, scheiß auf die Trends, bei uns klappt das auch so.“ „Vernissage My Heart“ ist deshalb in Auszügen hittiger als sein moodiger Vorgänger – man denke nur an „LED Go“ oder „Frisbee“ – gibt zeitweise aber mindestens genauso wenig Acht auf Erfolgserwartungen. Wenn das Quartett sich zum Schluss in einem sechsminütigen Jam verliert und den zugehörigen Song dennoch als Single auskoppelt, dann ist das so wenig Pop und Mainstream wie Black-Metal Club-tauglich ist. Bilderbuch können’s einfach.
Platz 9: LGoony – Lightcore
LGoony gehört zu der Handvoll Artists, die den Rap-Turnup 2015 erstmals in deutscher Sprache in die hiesigen Clubs brachte. Knapp vier Jahre später fährt der Kölner noch immer den DIY-Train, professionalisierte sich aber von Mixtape zu Mixtape. Dementsprechend tight klingt „Lightcore“ aus dem vergangenen Januar: Die Hooks catchen, die Beats sind fett und variabel, die Adlips sitzen. Dass die vierte Veröffentlichung des Jung-Alt-Rappers – ist alles eine Frage der Perspektive – trotz ähnlicher Formel Fortschritt erkennen lässt, liegt vor allem an dem mittlerweile ausgeprägten Melodiegespür LGoonys. Jeder Song besitzt Ohrwurmqualität ohne jemals in Richtung Shisha-Rap zu rutschen. Gerade deswegen kann man sich „Lightcore“ kaum entziehen.
Platz 8: Biffy Clyro – Balance, Not Symmetry
Gäbe es für mich einen Rock-Gott, so hieße er Biffy Clyro. Aus dem Nichts bescherten uns die drei Schotten im Mai des 12-Monats-Zyklus 2019 mit einem vierzehn Songs starken Soundtrack-Album zum gleichnamigen Independent-Film „Balance, Not Symmetry“. Der bewegt sich auf dem schmalen Grad zwischen der Eingängigkeit der neueren Studioalben Biffy Clyros und der unbändigen Kreativenergie der unzähligen B-Seiten. Mit dem frechen Titelsong, dem schrägen „Sunrise“ und dem hittigen „The Naturals“ trifft man deshalb auf gleich drei sehr typische Biffy-Clyro-Rock-Banger. „All Singing And All Dancing“ offenbart sich dahingegen als Elektro-Pop-Rocker, der in der Bridge einfach so zu beschließen scheint, das Tempo anziehen zu wollen, bloß um für den letzten Refrain fix einen Rückzieher zu machen. Typisch Biffy. Auch „Fever Dream“ – sollte ursprünglich in einer anderen Version auf Neils Solo-Debüt landen – setzt auf erstaunlich viel Synthesizer, die die Spannung bis zum Ende aufrechterhalten und sich schlussendlich in einem eklektischen Ausbruch entladen. „Balance, Not Symmetry“ manifestiert, wo Biffy Clyro nach sieben Studioalben und einem knappen Vierteljahrhundert Bandgeschichte musikalisch stehen. Gerade, dass die Band selbst eingängigere Songs mit Kniffen und Wendungen verziert, macht Hoffnung für die Zukunft der Schotten, wenngleich die Angst mitschwingt das Label könnte für die nächste richtige Platte, die bereits im kommenden Jahr erwartet wird, die kreative Ader der Band noch mehr beschneiden. Abwarten.
Platz 7: Swain – Negative Space
Auf den Grunge-Hardcore folgt 90er-Rock: Swain führen ihre konstante Weiterentwicklung auch mit ihrem dritten Langspieler fort. Begann man mit „Howl“ – unter dem Namen This Routine Is Hell – noch mit flottem Hardcore-Punk, so wich der zunächst einem grungig angehauchten Hardcore-Rock-Mischmasch. Mit „Negative Space“ kann man nun das Hardcore streichen. Diese Distanzierung von der eigenen Vergangenheit und der damals so pessimistischen Weltsicht reflektiert Sänger Noam Cohen auf „Same Things“, dem zweiten und ironischerweise wohl hardcore-lastigsten Song des dritten Swain-Langspielers. Beleuchteten die beiden Vorgänger zumeist die düsteren Seiten des Lebens, so lässt die Band nun auch fernab vom verträumten Interlude „Dispel“ gelegentlich Sonnenstrahlen in ihr Innerstes ein. Vor allem die Texte Cohens lassen deshalb ab und an Hoffnungsschimmer durchscheinen und suchen den Weg aus dem Negativen. Die Musik, die Swain für „Negative Space“ komponiert haben, trägt dahingegen zumeist eine melancholische Stimmung. Der Titeltrack kuschelt mit dem neueren Brand New-Material, „Uncomfortably Aware“ versucht sich an einer niedlichen Eigenreflexions-Hymne und „Skin On Skin“ pendelt zwischen sphärischem Synthie-Bass und Gröhl-Casper. Gerade weil die Band ihre Entwicklung mit so viel Mühe und Detailliebe angeht, ist „Negative Space“ unverkennbar Swain und dennoch neu. Spannend ist das allemal.
Platz 6: Angel Du$t – Pretty Buff
Das (Genre-) Grenzen doch nur in Köpfen existieren, beweisen Angel Du$t aus dem US-Bundesstaat Maryland mit ihrem Major-Label-Debüt „Pretty Buff“. Eine knappe halbe Stunde arbeitet sich das Quintett um Trapped Under Ice-Fronter Justice Tripp an Hardcore- und Punk-Rock ab ohne dabei jemals die Konventionen der beiden Szenen im Blick zu haben. Das Ergebnis davon sind Songs, die mal in Punk-Manier nach vorne preschen, sich mal an den Grooves des Hardcore bedienen, an erster Stelle aber immer Spaß bereiten. Dafür sorgen zum einen die verspielten Ausarbeitungen. Man lausche dafür nur einmal dem verrückten Zusammenspiel von Gitarren, Bass und Schlagzeug nach dem ersten Chorus von „Push“. Das liegt zum anderen an der feinfühligen Produktion: Statt auf düstere Zerr-Gitarren zu setzen, weicht das Quintett häufig auf Akustik-Gitarren und leichten Crunch aus. Auch darüber hinaus schreckt die Band nicht vor ungewöhnlichen Instrumentationen zurück: „Biggest Girl“ ergötzt sich an einer Xylophon-Spielerei und „Bang My Drum“ geilt sich an einem Saxophon-Solo auf. Ich bleibe bei meiner These: Seit Green Days „Dookie“ hat Punk-Rock – wenn man das denn so nennen darf – nicht mehr so viel Spaß gemacht!
Platz 5: Billie Eilish: When We All Fall Asleep, Where Do We Go?
Ja, auch Pop-Musik kann Rebellion. Wie wenig Erwartungen und Konventionen im Pop theoretisch wirken können, bewies Billie Eilish, die mit ihrem Debütalbum einen kometenhaften Aufstieg feiern konnte. Die zwölf vollwertigen Stücke des Albums umrahmen ein kurzes Quatsch-Intro sowie ein gut anderthalbminütiges Reprise, das die vorausgegangenen vierzig Minuten Revue passiere lässt. Dazwischen wispert, schreit und singt Billie Eilish von Angststörungen und Depressionen, thematisiert Drogenmissbrauch, den Klimawandel und verflossene Liebe. Die 18-Jährige lebt vegan, geht mit ihren psychischen Probleme offen um und steht exzessivem Drogenkonsum kritisch gegenüber. Gleichzeitig zeigt sie ihrer jungen Zielgruppe auf, dass einen starken Menschen auch eine Nervenkrankheit wie das Tourette-Syndrom nicht davon abhalten kann, die (Pop-) Weltherrschaft zu übernehmen. Ich glaube es könnte deutlich schlimmere Personen geben, die mit solch riesiger Macht ausgestattet sein könnten. Inspirierend.
Rezension zu der Platte vom lieben Christopher.
Platz 4: Foals – Everything Not Saved Will Be Lost Pt. 1 & 2
2019 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem ich die unbändige Genialität der Foals begriff. Wie unkonventionell, verspielt und vielseitig Rock-Musik Anno 2019 klingen und im gleichen Zug riesige Hallen erobern kann, bewiesen die Briten mit ihrem Doppel-Album-Ungetüm „Everything Not Saved Will Be Lost“. Bereits die erste Single-Auskopplung „Exits“ offenbarte sich als knapp sechsminütiges Tanz-Gelage, das geschickt typisches Foals-Riffing mit ungewohnt viel Text, elektronischen Synthie-Welten und hymnischen Chorussen vermählte. Der erste Teil der Albumreihe stellte dann dementsprechend elektronische und experimentelle Soundwelten vor, bot mit „White Onions“ und „On The Luna“ jedoch auch zwei tolle Gitarren-Stücke. Die Sechsaiter standen dann wiederum auf Teil zwei im Vordergrund, der das Riesen-Projekt mit dem punkigen „Black Bull“, dem groovigen „The Runner“ und dem epochalen Zehnminüter „Neptune“ ähnlich stark fortführte. In seiner Gänze hat der „Everything Not Saved Will Be Lost“-Zweier damit alles, was ein starkes Rock-Album ausmacht: Ein eindringliches Grundthema, Querverweise und starkes Songmaterial.
Rezension zu Teil eins. | Rezension zu Teil zwei.
Platz 3: The National – I Am Easy To Find
Wer nach 20 Jahren Schaffen immer noch frisch und modern klingt, der oder die muss zu den ganz Großen zählen. The National um die Gebrüder Devendorf und Dessner sowie Querdenker Matt Berninger gelingt es auf ihrem achten Langspieler frischen Wind zu zaubern, indem sie unzählige Gastsängerinnen einladen und sich so Neuem öffnen. Das mündet mal in wunderschönen Duetten, in denen sich das markante Bariton Berningers mit den Stimmen seiner Gegenüber umgarnt, mal in neuen Ansätzen wie dem mantraesken „Where Is Her Head“, das die weiblichen Gäste präsent in den Vordergrund rückt. Dem stehen etwas zuckeligere Songs wie das eingängige „Rylan“ oder der Eröffnungstrack entgegen. Abgerundet wird das Ganze von kurzen Chor-Interludes, die der insgesamt sehr langen Platte einen roten Faden verpassen. Wie spannend und vor allem schön Indie-Rock doch sein kann!
Rezension zu der Platte von der lieben Julia.
Platz 2: Thees Uhlmann – Junkies & Scientologen
Dass mich der ruppelige Herr aus dem nordischen Hemmoor mal so begeistern würde, hätte ich nach Solo-Album eins und zwei nicht im geringsten erwartet. Nicht falsch verstehen: Ich mochte die Musik des 45-Jährigen schon immer, aber komplett – also so richtig – mitreißen konnte sie mich nie. Das ändert sich mit „Junkies & Scientologen“ schlagartig. Das dritte Studioalbum Uhlmanns besticht durch seine lebensbejahenden Texte, die sowohl die schönsten Facetten des Lebens aufzeigen als auch stets eine ordentliche Portion Melancholie transportieren. „Wenn du nicht mehr weiter weißt frag Thees Uhlmann“ oder so. Das verpacken Uhlmann und Team in der bislang rockigsten Instrumentierung seit Tomte-Zeiten. Da darf man zu „Avicci“ liebend gern die Fäuste in den grauen Winterhimmel strecken und zu „Katy Grayson Perry“ im Wohnzimmer Ein-Mann- oder -Frau-Pogo tanzen. Gleichzeitig beschwören der eindringliche Closer und „Menschen Ohne Angst Wissen Nicht, Wie Man Singt“ ungeahnte Gefühlswelten. Toll einfach. Das finden selbst meine Eltern gut und die haben ungefähr so viel Sinn für Musik wie ein flauschiger Pudel.
Platz 1: La Dispute – Panorama
Ganz reduziert beginnt der vierte La Dispute Langspieler. Nach dem sphärischen Synthie-Prelude „Rose Quartz“ bahnt sich der „Fulton Street“-Zweier ganz behutsam den Weg in das limbische System – den Teil des Gehirns, der für die Generierung von Emotionen zuständig ist. Die folgenden viereinhalb Minuten schwillt das Soundkonstrukt weiter an, verdichtet seine Atmosphäre und mündet schlussendlich in der deutlich ausufernderen zweiten Songhälfte. Solche teilweise lang andauernden Wanderungen zwischen Laut und Leise unternimmt „Panorama“ während seiner guten dreiviertelstunde Spielzeit immer wieder. Ein solch bisweilen feinfühliger Umgang mit Dramaturgie erscheint im Streaming-Zeitalter durchaus als mutiger Schritt. Zwischen die emotionsgetränkten Post-Hardcore-Ausbrüche packen La Dispute wiederum Jazz-Spielereien, Trompeten-Soli und warme Synthesizer-Sounds. Die Platte verfügt deshalb nicht nur über ein präzises Verständnis von Melodie und Dynamik, sondern trumpft mit einem durchweg stimmigen Soundbild auf, das den diesmal sehr persönlichen Texten Jordan Dreyers einen passenden Nährboden bietet. „Panorama“ ist eine auf den Punkt perfekte Platte und hat sich den ersten Platz deshalb redlich verdient.
Die Rechte für die Cover liegen bei Epitaph Records, Warner Music, Grand Hotel Van Cleef, Interscope Records, 4ad, End Hits Records, Maschin Records und Airforce Luna.
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