Jahresrückblick 2020: Jonas

2020 brachte der Kultur-Branche ein bedrohliches Unwetter: Jonas zeichnet in seinem Jahresrückblick ein graues Musik-Jahr nach.

Grau-schwarze Wolkenberge türmen sich am Horizont auf. Verunsichert beobachten die Augen des Kindes, es hört auf den Namen „Kultur“, wie ein grellgelber Lichtspeer aus der dunklen Masse gen Boden schießt. Die Luft fühlt sich schwer an, denn Urflut-gleicher Regen kündigt sich an. Das Kind atmet tief ein. In der Ferne erblickt der junge Mensch – er wartet hilflos auf das Unheil – bereits eine undurchdringliche Wand aus faustdicken Tropfen. Es kann nur noch wenige Momente dauern, bis das Unglück auch über das junge Wesen hineinbricht. Die Beine in die Hand zu nehmen daher: keine Option. An Ort und Stelle bleiben: auch nicht. Die einzigen Wege aus dieser Misere hinaus, denn die Urgewalten scheinen nicht abzuziehen, bedürfen Unterstützung von Mitmenschen des Kindes: Von Freund*innen, Nachbar*innen, Kolleg*innen, Bekannten. Sie können Unterschlupf bieten, gemeinsam können sie Auswege suchen.

Ja, 2020 fegte zweifelsohne ein Unwetter über die Kulturlandschaft hinweg. Konzerte-light im Sommer, in Herbst und Winter keinerlei Live-Musik. Der Vormarsch von Streaming-Events. Hinzu lief der Verknüpfung von Live- und Release-Geschäft wegen auch letzteres auf Sparflamme. Viel eigentlich tischfertige Musik hielt „die Branche“ deshalb zurück: lieber auf Nummer sicher gehen, lieber auf heißen Kohlen sitzen als Verluste riskieren. Alles für die Kunst! Alles für’s Milliarden-Geschäft!

Es ist keine optimistische Aussage: Musik hat 2020 zeitweise auch gar nicht so gebockt. Das hat vornehmlich zwei Ursachen: Die Euphorie, die mit der Entdeckung einer neuen Platte einhergeht ist zu großen Teilen eben auch von dem besonderen Moment der Offenbarung getrieben: auf Konzerten, auf Festivals. Und ebenfalls davon, diese Freude mit Anderen teilen zu können: Nicht per Privatnachricht über das Internet, sondern von Angesicht zu Angesicht. Geiles Ding, Diggah!

Als essentieller Teil dieses Zirkus fehlen Konzerte: Erst hier wird Musik lebendig. Doch gleichzeitig sorgt der Gedanke an einen vollen Kalender wie Pre-März 2020 für Beklommenheit. Immer häufiger gewinnen daher solche Gedanken die Überhand, die sich mit den unangenehmen Seiten von Live-Musik auseinandersetzen: Der Rücksichtslosigkeit vieler, den schier endlosen Handymeeren, der Prävalenz unangenehm ritualisierter Normen. Zugabe, Zugabe!

Vielleicht reißen momentan gerade deshalb eigentlich sehr gute Alben von Bands, die sonst für ihre Live-Qualitäten geschätzt werden, wenig mit. Sowohl Turbostaat als auch Enter Shikari brachten in der ersten Jahreshälfte Platten, die ihre Stärken gekonnt auf den Punkt brachten. Aber: Bockt einfach nicht ohne die Möglichkeit sehr bald gemeinsam mit hunderten anderen Menschen die geteilte Fan-Liebe auszuleben. Denn Konzerte multiplizieren die Begeisterung für die aufgenommene Musik um ein vielfaches. Am Ende findet sich die Situation in einem Teufelskreis wieder: Ohne Konzerte weniger Freude an Musik, in konzertlosen Zeiten aber auch ein irrationaler Fokus auf die schlechten Seiten des Normalbetriebs. Was nun?

Aus grau wird gelb und blau

Doch Schluss mit der Tristesse. Es gab die Momente, Alben, Songs, die Freude bereiteten und auch nach diesem kollektiven Scheißjahr bestehen und wirken werden. 2020 war des zumeist engen Kontaktkreises aller wegen vielfach das Jahr der Indie-Songwriter*innen. Sowohl Phoebe Bridgers als auch Soccer Mommy sind daher – auch dank ihrer durchweg tollen Alben – klare Krisengewinnerinnen. Erstere verpasste ihrem melancholischen Sound auf „Punisher“ düstere Art-Pop-Kleider und bescherte sich selbst damit gleich vier Grammy-Nominierungen. Letztere versetzte Zuhörer*innen mit ihren verträumt-eingängigen 90s-Reminiszenzen in ein seicht-blubberndes Wohlfühlbad. Auch Matt Berninger legte während des trostlosen Herbst-Graus einen Beleg vor, dass manche Zeiten statt Opulenz und Pomp ganz einfach Reflexion und Reduktion erfordern. „Serpentine Prison“, das Solo-Debüt des The National-Sängers, ist auf unspektakuläre Weise spektakulär unaufgeregt. Und auch das neue Zinnschauer-Album wird die nächsten Monate wohl der Lockdown-Soundtrack vieler sein – auch wenn das erst am Vorsilvestertag und damit fast schon 2021 erscheint.

Ähnlich lässig kehrten sieben Jahre nach dem letzten Indie-Streich auch die Strokes zu alter Stärke zurück: „The New Abnormal“ gelingt es, inmitten moderner Umwelten, sozialer Spannungsfelder und Vergangenheitsbesinnungen, seine eigene Mitte zu ersuchen und finden – und dabei in stets gesundem Maß den eigenen Sound quer zu denken. Überraschend mitreißend gestalteten sich zudem drei Veröffentlichungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Die Giant Rooks wagten auf ihrem Album-Debüt „Rookery“ den konsequenten Schritt vom Indie-Folk hin zum Art-Pop, Bring Me The Horizon vermählten auf dem ersten Teil der„Post Human“-Reihe Pop-Affinität mit längst vergessener Härte und Rapperin Haiyti bewies mit ihren zwei Über-Alben „Sui Sui“ und „Influencer“, dass das experimentelle „Montenegro Zero“ keineswegs ein Glücksgriff war. Den wenig sympathischen Auftritt der Wahl-Berlinerin bei Spotifys Talk-O-Mat vergessen wir aber besser schnell. Apropos Deutschrap: Auch K.I.Z melden sich mit zwei Alben binnen eines Jahres aus der Pause zurück – zumindest das erste davon suhlt sich in gewohnt bissiger Provokation. Ob „Rap Über Hass“ (Vö: 28.05) da mithalten kann, muss das kommende Jahr zeigen.

Strahlen der Hoffnung

Doch es gibt sie auch: Die Alben, die auch trotz der Abstinenz von Live-Shows funktionieren, ursprünglich wohl aber ebenfalls für ebenjene Konzert-Situationen geschrieben wurden. Dogleg verhalfen als Punk-Durchstarter mit ihrem Erstling „Melee“ all jenen Gehör, die in gewöhnlichen Zeiten sonst dort am meisten fühlen, wo Bands und Fans zusammenkommen. Da die Musik des Quartettes sich so sehr aus diesen Szenarien nährt, transportieren die Aufnahmen eine ausreichende Portion eben dieses Gefühls: Stagedives für das WG-Zimmer. Genau diese Arena ist eigentlich auch die feste Heimat von Touché Amoré. Die US-Amerikaner jedoch probieren sich auf „Lament“ an ausreichend Neuem, sodass deren viertes Album selbst ohne echte Live-Darbietungen schimmernd glänzen kann. Selbiges gilt auch für die Idles, die ihren erdigen Post-Punk-Sound hinreichend in die Moderne transformierten – und mit „Reigns“ ganz nebenbei den wohl mitreißendsten Rock-Song des Jahres, mit „Danke“ gleichsam aber auch den enttäuschendsten Closer schrieben. Dieser umfassende Bogen gelang Zugezogen Maskulin besser: Mit dem widerwilligen „10 Jahre Abfuck“ gewannen Grim104 und Testo ihren Biss zurück.

An einem sparte das Corona-Jahr definitiv nicht: Lückenfüllern wie Remix- oder Live-Alben. Den über die Zeit hinaus einzig wirklich brauchbaren Mitschnitt jedoch brachten im Mai bereits Von Wegen Lisbeth, die mit „Live In Der Columbiahalle“ den Kern ihres Live-Schaffens in MP3-Form gossen. Dennoch: Mit weiteren Überbrückungsveröffentlichungen kann jetzt gerne Schluss sein. Denn selbst wenn die Rückkehr von Live-Musik nicht nur positive Nebeneffekte mit sich bringen wird, so ist es doch schleunigst an der Zeit, den anfangs besprochenen Teufelskreis zu durchbrechen. Irgendwann muss der Zirkus wieder auf Tour gehen: Keine Diskussion.

Jeder Sturm findet irgendwann sein Ende. Solch Naturgewalt kann Liebgewonnenes zwar zerstören, nach dem Ende der Verwüstung jedoch den unvermeidlichen Wiederaufbau nicht vereiteln. Und vielleicht birgt eine solche Neuorientierung auf der anderen Seite ja auch die Chance, alte Missstände zum Guten zu wenden. Die ersten Sonnenstrahlen der Hoffnung zumindest kämpften sich schon mit den erfreulichen Zulassungen der Impfstoffe diesen Spätherbst ihren Weg gen blau-grünes Erdreich. Das Ende des Unwetters kündigt sich damit bereits an, auch wenn die Rückkehr zum Normalzustand noch in ferner Zukunft zu liegen scheint, bis dahin Unmengen an Solidarität erfordern wird und anschließend vieler neuer Brücken und Häuser bedarf. Trotzdem: Auf das in 2021 noch mehr Licht das aufgetürmte Wolkengrau durchbricht!

Der beste Song des Jahres:

 

Zu vielen der erwähnten Alben habe ich dieses Jahr Texte geschrieben. Die gibt es hier:

Review: Bring Me The Horizon – Post Human: Survival Horror

Review: Enter Shikari – Nothing Is True & Everything Is Possible

Review: Haiyti – Influencer, Haiyti – Sui Sui

Review: Idles – Ultra Mono

Review: K.I.Z – Und Das Geheimnis Der Unbeglichenen Bordellrechnung

Review: Matt Berninger – Serpentine Prison

Review: Phoebe Bridgers – Punisher

Review: Touché Amoré – Lament

Review: Turbostaat – Uthlande

Review: Von Wegen Lisbeth – Live In Der Columbiahalle

Review: Zinnschauer – Das Zimmer Mit Dem Doppelten Bestand

Review: Zugezogen Maskulin – 10 Jahre Abfuck

Rechte fürs Beitragsbild: minutenmusik. Die Rechte der Beitragsbildcover liegen bei Frisbee Records (Kytes), Beton Klunker Tonträger (Blond), Jkp (Antilopen Gang), Universal Music (Dua Lipa), Eklat Tonträger (K.I.Z), Bmg Rights Management (Dance Gavin Dance, Kvelertak), SO Recordings (Enter Shikari), Warner Music (Provinz, Hayley Williams), Smi Col (Bury Tomorrow), The Orchard (Hurts), No Sleep Records (Hot Mulligan), Epitaph (Touche Amore), Sony Music (Little Mix, Zugezogen Maskulin).

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